Grünewalds Grossgeige

Taufe eines Spezialinstruments für ReRenaissance
So 24.04.22

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Abbildung: Mitteltafel des Grünewaldaltars; © Museum Unterlinden, Colmar

B

asel, 1511: Sebastian Virdung veröffentlicht «Musica getutscht», darin enthalten: Beschreibungen aller Arten von Instrumenten, einschliesslich der gestrichenen, mit Bünden versehenen Grossgeige.

Basel, 2021: Ein Geschenk ermöglicht den Auftrag an Jacob Mariani aus Oxford für den Bau einer Grossgeige. Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald birgt in der Mitteltafel ein Engelskonzert, gespielt mit den von Virdung beschriebenen Streichinstrumenten. Diese Darstellung zählt zu den stärksten der Spätgotik und ist geprägt von den mystischen Visionen der heiligen Birgitta von Schweden.

Zur Eröffnung erklangen weltliche Lieder aus Grünewalds Jugendzeit. Das Engelskonzert wird mit religiösen Werken aus den 1510er Jahren heraufbeschworen und gipfelt in einer deutschen Motette des Baslers Ludwig Senfl. Das Ende von Grünewalds Leben muss vom Aufkommen der Reformation und den Bauernkriegen geprägt gewesen sein, eine Zeit im Umbruch, die den Abschluss des Programmes bestimmte.

Jacob Lawrence – Gesang | Marc Lewon – Laute, Quinterne, Grossgeige | Tabea Schwartz – Blockflöte, Einhandflöte, Grossgeige | Elizabeth Rumsey – Grossgeige; Produktion | Baptiste Romain – Kleingeige, Dudelsack; Leitung

Grünewald-Grossgeige von Jacob Mariani 2022

Video

Taufe von Grünewalds Grossgeige​

Konzertmitschnitt April 2022 

On Grünewald, dreamy viols, and LSD

Vlog April 2022 zu «Grünewalds Grossgeige» – Taufe eines Spezialinstruments für ReRenaissance

Talk with Jacob Mariani, Luthier Grünewald-Grossgeige

Zum Konzert Grünewalds Grossgeige April 2022 EN Untertitel ML
Gespräch mit Jacob Mariani, Luthier der Grossgeige Video GN

Interview

Jacob Mariani – Lautenist, Gamben- und Viola d’Arco-Spieler und Spezialist für frühe Musikinstrumente

Thomas Christ (TC): Wie kam es zu Ihrer Faszination für die Frühe Musik? Was machte den Anfang, der Klang der Noten oder die Neugier für den Instrumentenbau?

Jacob Mariani (JM): Sie entstand aus der Faszination für historische Musik und meiner aktiven Teilnahme daran: Es war nicht immer einfach, in meiner Heimat an gute Mittelalter- oder Renaissanceinstrumente zu kommen, und so begann ich, beim Bau auf meine Vision und mein Design zu vertrauen. 

Ich hatte viel Hilfe und Ermutigung von anderen Instrumentenbauern und Interpreten der vorangegangenen Generation. Diese Leute sind oft sehr erpicht darauf, ihre Fähigkeiten weiterzugeben und eine herzliche Gemeinschaft rund um das Thema zu bilden. Es ist kein Verdrängungswettbewerb, es ist eine sehr offene Gemeinschaft.

TC: Vielleicht erklären Sie unseren Lesern kurz etwas über die reichhaltige Geigen- und Gambengeschichte. Es scheinen in der Renaissance fast so viele Geigen- oder Fideltypen zu existieren, wie es Geigenbauer gab, dennoch lassen sich doch spanische, italienische und süddeutsche Geigenfamilien unterscheiden.

JM: Ich denke, dass es noch viel über die regionalen Unterschiede zu erforschen gilt. Ich befasse mich mit einer Zeit, in der nur sehr wenige Instrumente tatsächlich überlebt haben, so dass wir unsere Informationen hauptsächlich aus der Ikonographie beziehen. Es ist schwierig, verlässliche Fakten aus diesem Bereich zu erlangen. Wir können über Tendenzen sprechen. Im Allgemeinen sehe ich, dass sich in den italienischen Abbildungen der Lira da braccio vertraute Stilelemente herausbilden, die auf die Violinen- und Viola da Gamba-Familien übertragen werden. Nördlich der Alpen gibt es eine grössere Vielfalt mit vielen Formen und Stilen (die möglicherweise direkt aus der mittelalterlichen Fidelkultur stammen), die im 16. Jahrhundert gewissermassen verkümmert sind. Letztendlich hat sich ein allgemeiner italienischer Stil durchgesetzt, mit Belegen für all diese kuriosen Experimente aus dem deutschsprachigen Raum um das Jahr 1500.

TC: Das ReRenaissance Konzert im April kommt in den Genuss einer Premiere – die von einem Engel gespielte berühmte Viola da Gamba des Colmarer Isenheimer Altars ist von Ihnen nachgebaut und im März dieses Jahres fertiggestellt worden. Das Altarbild von Matthias Grünewald muss die Musiker nur schon angesichts der rätselhaften Bogenführung der knienden Interpretin irritieren. Vielmehr erstaunen mich aber die auffallend starken seitlichen Einbuchtungen aller drei abgebildeten Violen. Sind das Grünewald’sche Fantasien, die in Form und Farbe eher die Eleganz des Engels unterstreichen oder tatsächlich historisch relevante Vorbilder?

JM: Zunächst einmal ist das Geheimnis, dass ich nichts nachgebaut oder kopiert habe – ich habe auf ein Modell hingearbeitet, das unsere ReRenaissance-Spieler zufriedenstellen würde, indem ich ästhetische Elemente aus dem Gemälde «übernommen» habe. Das Ziel war, dass die Betrachter das Instrument sehen und sofort Grünewalds Stil erkennen, aber auch sagen: «Moment mal, sie haben diesen Teil verändert … und dann diesen Teil …» und dabei erkennen, dass nichts mechanisch kopiert wurde. Wir haben uns zuerst an die Ergonomik und die Akustik gehalten und haben viel Zeit in das Studium des Bildverständnisses, der Bilddeutung investiert. Meiner Meinung nach folgen die Vertiefungen in den Instrumenten auf dem Gemälde den Gesten der «Engel» – Venus, Luzifer (Merkur) und Apollo – die humanoiden Formen und Gesten haben Vorrang vor den (funktionalen) Formen der Instrumente. Die Umrisse und Einbuchtungen (Taille) folgen lediglich diesen (seltsamen) Gesten. Davon abgesehen scheinen unsere ikonografischen Quellen viele auf den ersten Blick bizarr anmutende Gambentaillen und äußere Formen aufzuweisen, und diese sollten als mögliche Hinweise auf tatsächliche Trends, die heute verloren sind, befragt werden. Es stellt sich auch die Frage nach einer tiefengestaffelten Ikonographie innerhalb der Ikonographie – wie es bei einigen Instrumenten des Mittelalters der Fall ist, die versuchen, ein antikes Konzept, wie die gehörnte Leier, in den Umrissen einer völlig anderen Form und Technologie zu vermitteln.

TC: Sie haben in Ihrem Nachbau die helle Lindenholzfarbe gut getroffen, beim Resonanzkörper entfernen Sie sich aber stark von der «Zweiteiligkeit» des gemalten Instrumentes. Haben sie noch andere Quellen aus der Zeit benutzen können? Sind damals schon Geigenlacke entwickelt worden?

JM: Ich habe versucht, die Farbe des Gemäldes und die Annahmen der verwendeten Holzsorten aufeinander abzustimmen. Es gibt nur sehr wenig Lack – nur genug, um das Holz zu schützen, und nur sehr einfache Zutaten, die in ganz Europa leicht erhältlich waren. Hier gibt es keine Geheimnisse (und keine Kunststoffe!). Wir müssen auch bedenken, dass sich die Farbe des Holzes im Laufe der Jahre stark verändert. Im Moment ist das Holz noch recht frisch. Ich hoffe, dass diese Gambe in kurzer Zeit einen honigfarbenen Ton annimmt, der vielleicht den Farbnuancen des Gemäldes näherkommt.

TC: Die grosse Beliebtheit der Barockmusik, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, scheint mit unserer Konzertreihe vielleicht auch für die weitgehend unentdeckte Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Thema zu werden. Denken Sie, dass die Reichhaltigkeit und die Wiederentdeckung der noch unbekannten Blas- und der Saiteninstrumente hierzu einen Beitrag leisten werden?

JM: Auf jeden Fall. Unsere Vorstellungen von der Aufführung mittelalterlicher und Renaissance-Musik richteten sich häufig nach den Fertigkeiten, die wir bereits durch die Vertrautheit mit barocken Modellen entwickelt hatten. Diese Geisteshaltung und die damit verbundenen Grundannahmen beeinflussten oft unsere Herangehensweise an frühere Musik und Instrumente; das Ergebnis ist, dass viele historische Instrumente und Praktiken ständig übersehen wurden und andere (die einen grossen Beitrag zum Barock leisteten) unverdientermassen gefeiert und als zentral für die Musik der vorangegangenen Epochen dargestellt wurden. Der Erfolg des Barock in der Aufführung Alter Musik droht unsere Vorstellungen von früheren Epochen zu etwas zu formen, das der historischen Realität nicht entspricht – dies ist eine ständige Gefahr für neue Mittelalter- und Renaissance-Projekte; andererseits hat der Erfolg des Barock den Weg für eine Bewegung geebnet, die ein grösseres Interesse an Details und Vielfalt zeigt und sich vielleicht zunehmend nach dem Unbekannten (der Fremdartigkeit) sehnt, die mit der Erforschung früherer Quellen zu deren eigenen Bedingungen einhergeht. Die ReRenaissance-Reihe könnte ein Teil dieser differenzierenden Bewegung sein, ein Beweis dafür, dass die Gemeinschaften der Alten Musik sich nicht mit einem singulären und generischen Ansatz zufriedengeben, der sich nicht angemessen mit den Epochen auseinandersetzt, die er zu repräsentieren vorgibt. Wenn wir unsere Annahmen über Ästhetik und Aufführung über Bord werfen, werden wir mit einer Fülle interessanter und herausfordernder Details und Modelle konfrontiert. Ich habe mir immer gewünscht, zuerst zu bauen, in der Hoffnung, dass sich neue musikalische Möglichkeiten ergeben werden, sobald wir über ein anderes Instrumentarium verfügen, wie seltsam dieses auch zunächst erscheinen mag. Das Projekt der Grünewald-Gambe folgt dieser Denkweise und wird zeigen, dass sowohl Interpreten als auch Publikum dieser Situation gewachsen sein werden!

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Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Grünewalds Grossgeige», Apr 2022

Um das Debüt ihrer frisch rekonstruierten Grünewald-Gambe (nach einem recht bizarr anmutendem Gemälde) gebührend zu feiern, haben die ReRenaissance-Musiker ein wahrhaft bizarres Programm mit Musik aus Grünewalds Leben zusammengestellt. Es stammt aus einigen meiner Lieblingsquellen: Meine erste richtige LP mit alter Musik war eine mit Musik aus dem Lochamer-Liederbuch, daher erfüllt mich immer ein warmig-wohliges Gefühl, wenn es um diese Sammlung geht.

Viele meiner ersten Spielerfahrungen mit diesem Repertoire stammten aus dem Buxheimer Orgelbuch (da ein Nachbar eine Hausorgel daheim hatte). Und eine meiner ersten grossen Investitionen war die moderne Edition des Glogauer Liederbuchs. Natürlich möchte ich Aufführungen aus diesen Sammlungen um nichts in der Welt verpassen. Und am Ende des Programms gibt es eine Auswahl von Stücken aus einer weiteren meiner Lieblingsquellen, der persönlichen Sammlung, die Johannes Heer von Glarus während seines Aufenthalts in Paris zusammengestellt hatte. Es ist für jeden etwas dabei.

(Übersetzung: Marc Lewon)

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Programm

Programmbooklet April 2022

Matthias Grünewald (c1480–c1530)  

[Groß- und Kleyngeygen] 

1. Die susz nachtigall – anonym
München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. MS 3725 (Buxheimer Orgelbuch, c1470), fol. 60v

2. Mir ist mein pferd vernagellt gar – anonym
Berlin, Staatsbibliothek – Preussischer Kulturbesitz, Mus.40613 (Lochamer-Liederbuch, c1455), S. 28 

3. Wes ich mich leid – Hans Sigler? / Johann Zwigler? (gestorben 1483 oder tätig1502-04).
Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Mus. 40098 (Glogauer Liederbuch, c1480), fols. M5v / N2r / N6v 

4. Poumgartner – anonym
Buxheimer Orgelbuch, fol. 61r 

5. Ach Got ich klag des winters art – Wencz Nodler
München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. Germ. Mon. 810 (Schedelsches Liederbuch, c1460), fols. 119v–121r 

6. Ach meiden, du vil sene pein – anonym
Lochamer-Liederbuch, S. 11 

7. Ich spring an disem ringe – anonym
Lochamer-Liederbuch, S. 41 

8. Cum audisset Iob – Rigo de Bergis (tätig c1500)
Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, MS 462 (Liederbuch des Johannes Heer von Glarus), S. 82 

9. Male bouche – Circumdederunt me – Loyset Compère (c1445–1518)
Liederbuch des Johannes Heer von Glarus, S. 114 

10. Qui venit duum vocum – Antoine Brumel (c1460–1512/13)
Liederbuch des Johannes Heer von Glarus, S. 140 

11. Je ne fais plus – Gilles Mureau (c1450–1512)
Liederbuch des Johannes Heer von Glarus, S. 85 

12. Tandernaken – Alexander Agricola (1445/6–1506)
Canti C numero cento cinquanta, Ottaviano Petrucci, 1504, Venedig [Canti C] fols. 144v–146r 

13. Da Jesus an dem Kreuze hieng – Ludwig Senfl (1489/91–1543)
München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. MS 10 (1520-1529), fols. 81r–98r 

14. Ich glaub in Gott – anonym
Wolfgang Köpphel [Köpfel]: Teutsch Kirchenampt mit Lobgesengen und göttlichen Psalmen, Strassburg, 1524 

15. Es woell uns Got genaedig syn – Johannes Wannenmacher (c1485–c1551)
Bicinia sive duo, Germanica ad aequales, Bern: Mathias Apiarius, 1553, Nr. 7 

16. Es get ein frischer sumer daher – Hans Wisbeck?
Bern, Universitätsbibliothek, MUE Rar alt 605, fol. 1r 

17. Gelobet seist du Christe – Ludwig Senfl
Newe deudsche geistliche Gesenge, Georg Rhau, 1544, Wittembergmental 

 

kursiv = instrumental 

Galerie

2024

April

Ad Narragoniam

Musik aus dem Narrenschiff
So 28.04.24 17:45 Intro 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Mai

Jouissance vous donneray

Ein Gemälde erwacht
So 26.05.24 18:15 Uhr

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

September

Die Bassanos

Hommage an die Blockflöte
So 29.09.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Oktober

Magnum opus musicum 1604

Nachruf auf Orlando di Lasso
So 27.10.24 18:15 Konzert

Martinskirche
Basel

November

Du Fay 550

Musik fürs ganze Leben
So 24.11.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Dezember

Nun singet

... und seid froh!
So 29.12.24 17:45 Mitsing-Workshop 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel