Baptiste Romain, Ivo Haun, Marc Lewon und Sabine Lutzenberger © Andrew Burns
m 16. und 17. Jahrhundert konnten die Menschen nicht nur lesen, was in der Welt um sie herum geschah, sondern vor allem auch hören. Alle möglichen Nachrichten wurden von spezialisierten Druckern wie etwa dem Basler Johann Schröter auf den Markt gebracht, von Strassensängerinnen und -sängern auf der Gasse oder in der Beiz aufgeführt und als handliche Broschüre zum Mit- und Nachsingen an das Publikum verkauft.
Solche Liedflugschriften sind ein bisher kaum beachtetes Newsgenre der Frühen Neuzeit, vor allem aber ein unglaublich reiches musikalisches Repertoire.
In Kooperation mit Prof. Dr. Jan-Friedrich Missfelder und der Universität Basel
Ivo Haun – Gesang, Laute
Baptiste Romain – Lira da braccio, Dudelsack, Renaissancegeige
Sabine Lutzenberger (siehe auch Interview) – Gesang
Marc Lewon – Laute, Cister, Gesang; Leitung
Liederverkäufer und Kolporteur, in: Cris de Paris (erste Hälfte 16. Jahrhundert), Paris, Bibliothèque nationale de France, Arsenal 264, fol. 1r
Die renommierte Interpretin für Gesang in Früher Musik, Sabine Lutzenberger aus Augsburg, beantwortet Fragen von Dr. Thomas Christ.
Thomas Christ: Mit über 60 CD-Aufnahmen gehörst Du, liebe Sabine Lutzenberger, wohl zu den bedeutendsten Kennerinnen der Frühen Musikszene Europas. – Wie kommt man in der Ausbildung vom Blockflöten-Diplom in Augsburg nach Zürich weiter nach Basel an die Schola Cantorum?
Sabine Lutzenberger: Erst einmal freue ich mich riesig, Teil von ReRenaissance sein zu dürfen für das Programm der «Liedflugschriften» mit Marc Lewon, mit dem ich ja schon seit langem zusammenarbeite.
Von Augsburg nach Zürich war es ein Katzensprung, da meine Professorin Susanne Schaffert in Augsburg mir Pedro Memelsdorff empfahl, weil sie wusste, dass er ebenso eine Passion für das Mittelalter hatte. Und so kam es eben. Zum Glück bestand ich die Aufnahmeprüfung und konnte bei Pedro M. und später bei Kees Booke studieren. Das war eine wichtige Zeit, weil sich mir die Weite der mittelalterlichen Epochen mit den verschiedensten Stilen eröffnete. Neugierig geworden, wollte ich unbedingt mehr über das Mittelalter erfahren und so kam es zum Aufbaustudium an der Schola Cantorum, wo ich dann auch von Blockflöte auf Gesang wechselte: Ein Traum ging in Erfüllung.
TC: Du bist in der Musikliteratur des Mittelalters, der Renaissance, aber auch des Barock zu Hause, wie erklärst Du Dir das auffallend grosse Interesse der letzten Jahrzehnte für die Werke des Barock in den Medien und insbesondere an den Opernhäusern, während der reiche Fundus der Renaissancemusik weitgehend ein Nischendasein führt?
SL: Hm …, die Barockmusik mit ihrem «Hero» Johann Sebastian Bach hat natürlich einen gewaltigen Vorsprung in den «Hitlisten» der Hörer:innen. Und wie wir wissen, hört das Publikum gerne mal seine «Highlights» – und jedes Jahr aufs Neue. Nimmt man das Mittelalter und die Renaissance zusammen, decken sie 500 Jahre Musikgeschichte ab – im Gegensatz zur Barockzeit, die etwa 120 Jahre zählt. Die «Heros» des Mittelalters heissen da Magister Perotin, Guillaume de Machaut oder Francesco Landini, um nur drei zu nennen. Ja, die sind nicht so bekannt. Hat aber ein Publikum die Chance, sie zu hören, macht sich dort Staunen und Jubel breit. Die Veranstalter sollten sich nicht scheuen, Mittelalter und Renaissance zu programmieren und diese Musik auf die Agenda setzen und dafür zu werben; Denn wir als Interpreten erleben bei jedem Konzert, dass die Musik ankommt, berührt und als Bereicherung empfunden wird.
TC: Im Spiegel der Medien und Deiner Kollegen und Kolleginnen wirst Du gerne als ausgewiesene Kennerin und auch als «Pionierin des mittelalterlichen Gesangs im deutschsprachigen Raum» zitiert. Kannst Du uns kurz etwas über den Wandel der Bedeutung der Sprache z. B. vom Lateinischen zur Lokalsprache in der Frühen Musik erzählen?
SL: Ja, da weiss ich nicht so recht, was ich sagen soll. Der einfache Grund liegt wohl darin, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Vielleicht ist es das. In der einstimmigen weltlichen Musik geht es vor allem um den Text, um das Gedicht, die Botschaft. Die Melodie spielt hier eine untergeordnete Rolle und vor allem bei Strophenliedern geht es um die Kunst des Erzählens. Mit dieser Kunst habe ich mich lange beschäftigt und merke immer mehr, wie biegsam doch so eine Melodie sein kann und sein muss, um dem Text den Vorrang zu geben. Die Variationsfähigkeit der Melodie gefällt mir dabei sehr.
TC: Du hast als Interpretin auch an zahlreichen Festivals zeitgenössischer Musik teilgenommen. Da drängt sich die Frage auf, ob dies für die Expertin als eine völlig neue Welt, als ein Kontrastprogramm, oder eher als Brückenschlag zweier vergleichbarer Zeiten zu verstehen ist.
SL: Die Ästhetik der Alten wie auch der Neuen Musik liegt bei den Stimmen oder generell in einer geraden Tongebung. Das Vibrato wird als Stilmittel eingesetzt. Durch schlichte und unaufgeregte Stimmführung lassen sich Kontrapunkt und Gesangslinien besser hören und verstehen.
An Neuer Musik bin ich sehr interessiert, ist sie doch Ausdruck unserer Zeit. Mir als heutiger Musikerin ist es ein Bedürfnis, mich authentisch ausdrücken zu dürfen. Haben wir doch bei der Interpretation Alter Musik, trotz intensiven Recherchen, das grosse Problem der Authentizität. Bei der heutigen Musik, die gerade improvisiert oder geschrieben wird, muss ich nur meinen Mund aufmachen und lossingen, kann den/die Komponist:in fragen, wie er/sie es sich vorstellt und bringe ein, was in meinem Erfahrungskatalog zu finden ist. Hier jedoch kommt eben auch die Alte Musik ins Spiel, denn sie ist für meinen Schatz an Ideen von besonderer Wichtigkeit und Inspirationsquelle für Neues – eine grosse Bereicherung für beide Arten der Musik.
TC: Natürlich interessiert uns in eigener Sache auch die kritische Würdigung unseres Basler Forums für Frühe Musik und insbesondere unseres Festivals, das für dieses Jahr 2025 geplant ist. Als Kennerin der europäischen Renaissanceszene kannst Du den internationalen Stellenwert unserer Vereinsaktivität vielleicht besser einordnen als wir selbst.
SL: Ich finde die Arbeit von ReRenaissance ganz grossartig und bin voller Bewunderung, mit welcher Ernsthaftigkeit und mit welchem Teamgeist der Verein arbeitet. Zu Coronazeit entstanden und für die Basler Musiker:innen in dieser schweren Zeit ein Segen, floriert er lebendig durch die engagierten Musiker:innen und Förder:innen. Chapeau!
Ich bin dabei!
Von David Fallows
Im 16. Jahrhundert waren Liedflugschriften allenthalben anzutreffen: grosse Druckbögen mit einer oder zwei in (meist) erbärmliche Verse gegossenen Geschichten, manchmal mit Melodie, manchmal nur mit dem Namen einer bekannten Weise, auf die die Geschichte gesungen werden kann.
Ich kenne sie hauptsächlich aus der Sammlung des englischen Tagebuchschreibers Samuel Pepys: fünf dicke Bände in seiner Bibliothek in Cambridge. Dieser Sammlung vorangestellt ist eine sehr ungenaue handschriftliche Kopie des berühmten Agincourt-Liedes, das um 1700 auf Pergament niedergeschrieben wurde (zu dem Pepys durch seine Arbeit in der Admiralität leichten Zugang hatte). Neben dieser Abschrift befindet sich eine noch schlechtere Transkription der Musik, die Pepys selbst zur Gitarre gesungen haben sollte. Bischof Percy veröffentlichte den Text in seinen Reliques of Ancient English Poetry (1765), und ein Kollege fügte eine Notenübertragung hinzu, wobei er dachte, dass die untere Textzeile die Melodie und die Zeile darunter die Begleitung sei, und schuf damit einen der weltweit misslungensten Versuche, ältere Musik zu edieren. Charles Burney fand das so absurd, dass er eigens für seine Ausgabe (1782) nach Cambridge reiste, was angesichts der Umstände ziemlich bemerkenswert ist. Aber die erste Ausgabe aus einer anderen Quelle, d. h. aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts, wurde erst 1891 veröffentlicht.
Die deutschsprachigen Flugblätter kenne ich nur aus meiner Arbeit an der New Josquin Edition: Ja, sie enthält auch ein deutsches Flugblatt und ich argumentiere sogar leidenschaftlich dafür, dass es durchaus von Josquin stammen könnte (obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass mir das bislang noch niemand abgenommen hat: Josquin-Forscher sind ein misstrauischer Haufen).
Wie schön also, dass Ivo Haun, Sabine Lutzenberger, Baptiste Romain und Marc Lewon sich entschlossen haben, einige dieser Geschichten zum Leben zu erwecken. In den 1970er Jahren gab es eine englische Gruppe, die etwas Ähnliches unternommen hatte, aber seitdem habe ich nichts dergleichen gehört. Ich bin natürlich sehr gespannt, wie sie das Thema angehen werden.
Übersetzung: Marc Lewon
Wolfgang Meyer: Erschroͤckliche Historia vnd Geschicht / von den kleglichen vnd erbermlichen Moͤrden / so geschehen sind in der loͤblichen Stad Basel / Gantz jemmerlich zu lesen oder zusingen / Jm thon / Koͤnd ich von hertzen singen. Oder wie das Frewlein aus Brytannien; Dresden: Matthes Stöckel d. Ä. 1566; Melodie «Hilff Got das mir gelinge» nach: Psalmen vnd Geistliche lieder / welche von fromen Christen gemacht vnd zusamen gelesen sind, Leipzig: Valentin Bapst 1547.
Passamezzo aus dem K [& Saltarello] – Matthäus Waissel (c1540–1602); Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Thott. 4° 841 («Lauten- und Liederbuch des Petrus Fabricius»), fol. 129v–130r
Gewisse Postzeitung vnd Bericht / Erstlich von dem Erbaͤrmlichen Zustandt im Veltlin / vnd deß vmbligenden Paß daselbst / Vnnd dann von Regierung der gifftigen Pestilentz / Wie man auch taͤglich / bey Tag vnd Nache ein Stim schreyen hoͤrt / zu Tell / O weh / O weh / deß vnschuldigen Bluts so wir vergossen / rc. Zum andern / von den grossen Præsenten deß Persianers / dem Tuͤrckischen Soldan verehret. Zum 3. Wie der Koͤnig von Franckreich die Raͤth der Huggenotten zu Roschell in die 50. auffhencken lassen […] Letzlich / wie Graff Boucquoy die Statt Mysteritz zum vierdtenmal gestuͤrmpt / doch wider abgezogen / Geschehen den 5. Januar 1621. Jm Thon / Graff Niclaus von Serin; sine loco 1621; Melodie nach: Johannes Werlin, Benediktiner zu Seeon gesammelt und geschrieben, nämlich Bd. 4: Rhythmorum VII – X versuum modulationes, München, Bayerische Staatsbibliothek, Sig. Cgm 3639
La Battaglia – Clement Janequin (c1485–1558), Prima pars: Tabulatur von Marco dall’Aquila (c1480 – nach 1538); München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus. 266, fol. 46v–47v
ain feldsgeschray / Ein guotts feldtgschray schweitzerisch / lerman lerman – Biblioteca Fundaziuin Planta, Samedan, Staatsarchiv und Kantonsbibliothek Graubünden, Ms. M2 (Lautentabulatur des Johannes von Salis-Samedan, c1512 in München geschrieben)
Eiñ Hüpsch nüw Lied / Oder klag einer armen Wittwen / die jhren Eelichen mann in Pemond verloren hett. Jm thon / Jch stuͦnd an einem morgen […]; Bern: Siegfried Apiarius 1565; Melodie: «Ich stund an einem morgen» nach Ludwig Senfl und Heinrich Isaac
La bataille – Tielman Susato: Danserye, Antwerpen 1551, Nr. 41
Stortenbecker – Melodie nach: Lauten- und Liederbuch des Petrus Fabricius, fol. 94v
Der Baurenn krieg. Ein schones lyed / wie es inn allem Teutschenn landt mit den Baurenn erganngen ist wo ire leger gewest vnd wie sy geschlagen vnd zertren net seind. Jm thond. Es geet ein frischer sommer daher da wert ir horenn newe mer. M D XXV; Bamberg: Georg Erlinger 1525; Melodie nach: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. M. 53
Ich stund an einem morgen – Ludwig Senfl (Basel, c1490–1543), Trium vocum carmina, Nürnberg: Hieronymus Formschneider 1538, Nr. 95, fol. M4r
Warhaffte / doch Trawrige / auch leydige new Zeittunge. Von der vberauß erschroͤcklichẽ wasserguß / so sich in Wallis mit zsamenfallung zweier Bergen in Rodan / vnd desselben fluß verschwellung in disem 1595. Jar mit grossem hertzleid sich zugetragen hat / allen frommen zu Christlichem / nachbarlichem mitleiden / auch trewherzigem gebaͤtt / das der liebe Gott solche straff vorthin von vns gnedig ab wenden woͤlle / lieder weiß gestelt / Jm thon / kompt her zu mir spricht Gottes Sohn / rc. Geschehen den drieten May / Jm jar vnsers Herrn geburt / 1595; Basel: Johann Schröter 1595; Melodie-Erstdruck aus: Geord Grünwald, Ain schœns newes Christlichs lyed. Jtem die Zehen gebott Gottes zuo singenn im Thon/ Auß tieffer nodt [et]c., Augsburg: Alexander Weißenhorn 1530
Gregor Meyer: Beywonung die thuͦt allzeyt vil, in: Zwey hüpsche newe Lieder/ Das Erst: Wo wachszt Höw, thu mirs sagen, wils gern verstan von dir. Das Ander/ Beywonung die thuͦt allzeyt vil, Basel: Samuel Apiarius 1568. Ein ander Lied. Componiert durch Gregorium Meyer mit vier stimmen; (Nur Tenor erhalten.) Satz: Marc Lewon
Liederverkäufer und Kolporteur, in: Cris de Paris (erste Hälfte 16. Jahrhundert), Paris, Bibliothèque nationale de France, Arsenal 264, fol. 1r
Drey schoene newe außerlesene Lieder / Das erste Jungfraw ihr habt ein kleine [...], Basel: Johann Schröter (sine datum, 1610); Zentralbibliothek Zürich, Ms Z VI 686.
Erstdruck der Melodie «Hilf Got das mir gelinge» (identisch mit: «Könnt ich von Herzen singen»), in: Psalmen vnd Geistliche lieder / welche von fromen Christen gemacht vnd zusamen gelesen sind; Leipzig: Valentin Bapst 1547.
Warhaffte / doch Trawrige / auch leydige new Zeittunge. Von der vberauß erschroͤcklichẽ wasserguß / so sich in Wallis mit zsamen fallung zweier Bergen in Rodan / vnd desselben fluß verschwellung in disem 1595. Jar mit grossem hertzleid sich zugetragen hat [...]; unbekannter Druckort 1595
Melodiebeleg für den «Stortenbecker», in: Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Thott. 4° 841 («Lauten- und Liederbuch des Petrus Fabricius»), fol. 94r
Ein schoen Lied/ von der grossen Rauberey/ deß Stoertzebechers/ vnnd Goediche Michaels/ [et]c. Wie sie so schendlich auff dem Wasser geraubt haben; unbekannter Druckort 1555
Haus zum Kirschgarten
HMB
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Basel, Martinskirche
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
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