Canti C

Im Labyrinth der Revolution
So 26.02.23 Thema 17:45 Konzert 18:15

Barfüsserkirche Historisches Museum Basel

«Canti C»

D

ie Canti C erschienen 1503 in Venedig als zwölfte Veröffentlichung des berühmten Pioniers des Musiknotendrucks Ottaviano Petrucci. Nach Ausgaben, die den Messen von Josquin, Obrecht, Brumel, Ghiselin und Pierre de la Rue gewidmet waren, bereitete er eine neue Sammlung aus französischen, italienischen, flämischen und lateinischen Liedern vor. Er suchte nach selteneren Werken, darunter nach Liedern, die bis in die 1460er Jahre zurückreichten. Neben diesen wunderbaren Klassikern gibt uns das Programm die Gelegenheit, gewagte neue Bearbeitungen zu geniessen – wie Tart ara, J’ay pris amours und Le serviteur – und dabei zugleich die flämische Sprache in Ehren zu halten.

Miriam Trevisan – Gesang | Claire Piganiol – Harfe, Organetto | Elizabeth Rumsey – Renaissancegambe | Brian Franklin – Renaissancegambe | Baptiste Romain – Renaissancevioline, Vielle, Rebec; Leitung

2302 Februarflyer Canti C 

Programmbooklet ReRenaissance Canti C

Oder siehe auch unten: Ausklapper Programm und Text & Geschichte

Brian Franklin, Liz Rumsey, Baptiste Romain, Claire Piganiol, Miriam Trevisan ©Andrew Burn

Video

Petrucci’s biggest Flop?

Videoblog zu Canti C, Im Labyrinth der Revolution, 26. Februar 2023 (Hosted by Jonas Wolf ; Video shoot and edit by Andrew Burn)

Interview

Interview mit dem Gambisten Brian Franklin

Thomas Christ: 1977 kamst du nach Basel, um bei Jordi Savall an der Schola Cantorum Basiliensis zu studieren. Du hast vor 40 Jahren als Dozent für Viola da Gamba in der Schweiz begonnen, bei vielen namhaften Ensembles mitgewirkt und zahlreiche CDs mit Früher Musik eingespielt. Wie findet man als gebürtiger Amerikaner zur Frühen Musik, war die Gambe bereits in jungen Jahren dein bevorzugtes Instrument?

Brian Franklin: Ich bin in Toronto, Kanada aufgewachsen und hatte zunächst Cello gespielt, aber auch Blockflöte und ein bisschen Klavier. Zusammen mit meinem älteren Bruder hörte ich viel Frühe Musik auf Platten, alles von Mittelalter bis Bach. Eigentlich waren unsere Nachbarn «schuld», da sie Platten mit Werken von Bach, gespielt auf Originalinstrumenten, besassen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie zufällig manche Sachen sich entwickeln. Irgendwann kam der Wunsch, Gambe zu spielen. Und in den Siebzigerjahren gab es sogar eine kleine Gambenszene in Toronto!

TC: Der Titel unseres Februar-Programms «Canti C» bezieht sich auf die dritte Liedersammlung Ottaviano Petruccis (1503), welcher als Erfinder des Notendrucks und als erster bedeutender Musikverleger gilt. Dein Ensemble nennt sich «Canti B» und bezieht sich damit auf Petruccis zweite und kleinste Liedersammlung (1502). Wie seid ihr zu diesem Namen gekommen?

BF: Wenn man ein Ensemble gründet, ist es oft sehr schwierig, einen passenden Namen zu finden. Wissenschaftliche Überlegungen stehen da nicht immer im Vordergrund. So muss ich zugeben, dass wir im Ensemble «Canti B» eigentlich nur wenige Werke aus Canti B spielen. Wir haben uns am Anfang viel mit Frottole beschäftigt, die auch von Petrucci verlegt wurden, was wiederum eine klare Verbindung zu seinem Schaffen schuf. Der Name «Canti B» hat uns aber einfach gefallen.

TC: Stimmt es, dass wir den hohen Stellenwert der Gambe vornehmlich den Franzosen zu verdanken haben? Louis XIV. soll die Gambe gegenüber der Geige vorgezogen haben – oder war die Gambe bereits in der Renaissance als führendes Streichinstrument en vogue?

BF: Die Gambe war tatsächlich schon in der Renaissance ein führendes Streichinstrument, aber nicht zuerst in Frankreich, sondern auf der iberischen Halbinsel und in Italien, etwas später auch in England, im deutschsprachigen Raum und dann in Frankreich.

TC: Hat es dich auch interessiert, Brücken von der Alten Musik zu anderen Musikepochen und -genres oder zum Tanz zu schlagen?

BF: Mein Interesse ging auch in Richtung zeitgenössischer Musik. Ich habe 20 Jahre lang in einem Trio mit Blockflöte und Cembalo gespielt, wir gaben regelmässig Werke für unsere Besetzung in Auftrag und konzipierten Konzertprogramme mit einer Mischung aus Früher und Neuer Musik. Als Gambist hatte ich weniger Erfahrung mit Neuer Musik als meine Kolleg:innen. Dass man auf der Blockflöte zeitgenössische Musik spielt, ist fast Usus, und der Cembalist komponierte selbst. Das Ensemble existiert nicht mehr und ich spiele eigentlich keine Neue Musik mehr, dafür mehr Renaissancemusik.

TC: Meine letzte Frage betrifft den Stellenwert von Renaissancemusik in der heutigen Musikszene: Im Gegensatz zu Barockmusik steht Musik vor 1600 erst am Anfang ihrer Wiederentdeckung. Wird sie sich deiner Meinung nach bald einer ähnlichen Beliebtheit erfreuen oder wird sie eher einem Nischenpublikum vorbehalten bleiben?

BF: Es wäre sehr schön, wenn sich die Renaissancemusik in absehbarer Zeit einer ähnlichen Beliebtheit wie die Barockmusik erfreuen würde. Ob es wirklich so weit kommt, weiss ich natürlich nicht, aber ich gehe davon aus, dass die Zeiten des absoluten Nischenpublikums bei der Renaissancemusik langsam aber sicher vorbei sind. Ich bleibe optimistisch und freue mich immer, wenn es die Möglichkeit gibt, schöne und interessante Konzerte mit Renaissancemusik zu spielen und auch zu hören. ReRenaissance sei Dank!

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Kolumne

Ich bin dabei …
David Fallows

Petrucci scheint ein Leben voll kühner Experimente geführt zu haben. Sein erster Druck, das Odhecaton von 1501, war bekanntlich ein einziges Risikounternehmen und zugleich eine gewaltige Innovationsanstrengung.

Prof. Dr. Dr. h. c. David Fallows

Ein Jahr später gab er das Chorbuchformat auf, das er für seine ersten Veröffentlichungen verwendet hatte (und bei dem alle Stimmen auf einer Doppelseite untergebracht wurden), und ging mit Misse Josquin zu Stimmbüchern über – ein ungleich schwierigeres Unterfangen, weil er dafür vier Bücher (für jede Stimme eines) von ungefähr gleichem Umfang mit einer begrenzten Anzahl von Seiten pro Buch herstellen und dabei mit seinem Standard von acht Seiten pro Lage auskommen musste. Die Publikation aber wurde ein überwältigender Erfolg: Misse Josquin erlebte mindestens vier Auflagen und es folgten weitere Messen-Drucke von fast allen anderen berühmten Komponisten der Zeit, stets in Form von kleinen Stimmbuchsätzen. Zwei Jahre später begann er kühn seine Frottola-Reihe, die auf elf Bände anwuchs. Und 1507 begann er mit Tabulaturen für Laute, die vielleicht etwas weniger erfolgreich waren, weil sie im Endeffekt nur sechs Bände umfassen sollten.

Als Desaster jedoch scheinen sich die Canti C herausgestellt zu haben, sein Versuch einer wirklich grossen Sammlung von 139 Stücken auf 168 Folios. Sie war mehr als doppelt so umfangreich wie alle seine anderen Veröffentlichungen. Und er sollte etwas Vergleichbares nie wieder versuchen. Der begrenzte Erfolg dieses Drucks zeigt sich auch darin, dass es kaum handschriftliche oder gedruckte Kopien des Materials aus den Canti C gibt, verglichen etwa mit dem Odhecaton und Canti B oder Misse Josquin: Alle drei wurden von späteren Verlegern gnadenlos raubkopiert, Canti C jedoch nicht.

Nicht, dass der Inhalt weniger attraktiv gewesen wäre: Canti C strotzt geradezu vor wunderbarer Musik, von der vieles bereits in früheren Quellen zu finden ist. Und das meiste davon ist heute weniger bekannt als die Musik der drei anderen Publikationen. Das ist wirklich schade, und ich bin entsprechend gespannt, dieses Konzert zu hören.

(Übersetzung: Marc Lewon)

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Programm

Programmbooklet ReRenaissance Canti C

Favus distillans – Johannes Ghiselin (tätig 1491–1505)
fol. 150v–151r

Vostre a jamais / Je n’ay deuil – Johannes Ghiselin
fol. 159v–160r

Helas hic moet my liden – Johannes Ghiselin
fol. 162v–163r

Tart ara mon cuer sa plaisance – Jean Molinet (1435–1507)
fol. 123v–124r

 

Tartara – Heinrich Isaac (c1450–1517)
fol. 136v–138r

 

J’en ay dueil que je ne suis morte – Jean de Okeghem (c1410–1497)

Rose plaisant odorant comme graine – Jean [Philipon] Dusart (†1485)
fol. 121v–122r

La hault d’alemaigne – Mathurin Forestier (tätig 1500–1535)
fol. 151v–152r

Ay mi ay mi wat zal ic doen – anonym
fol. 125v–126r

Le serviteur – Martin Hanart (†1582)
fol. 166v–117r

Prenez sur moi vostre exemple amoureux – Jean de Okeghem
fol. 167v

Vueit ghy – anonym
fol. 155v–156r

Forseulement – Alexander Agricola (c1446–1506)
fol. 3v–4r

Forseulement – Jacob Obrecht (1458-1505)
fol. 4v–5r

Forseulement – Gilles Reingot (tätig 1500)
fol. 23v–25r

 

Myn hert heeft altijts verlanghen – Pierre de la Rue (c1452–1518)
fol. 7v–8r

J’ay pris amours – anonym
fol. 40v–41r

J’ay pris amours – anonym
fol. 54v–55r

 

Text & Geschichte

Programmnotizen von Baptiste Romain

Wie die beiden früheren von Petrucci herausgegebenen Sammlungen von Instrumentalmusik ist auch Canti C ein Zeugnis für den Aufschwung der weltlichen Musik um 1500. Diese Drucke setzten die Verbreitung polyphoner franko-flämischer Chansons in unterschiedliche Gesellschaftskreise in Gang. Mit Canti C wollte Petrucci an den Erfolg von Odhecaton A und Canti B anknüpfen. Canti C überstieg den Umfang seiner früheren Publikationen mit insgesamt 139 Stücken bei weitem. Neben einer Vielzahl an vierstimmigen Stücken sind einige für die Zeit bemerkenswerte zwei- und fünfstimmige sowie ein Schlussabschnitt mit 24 dreistimmigen Werken enthalten. Das Programm präsentiert Musik der 1460er und 1470er Jahre, aber auch neuere Werke, die jenes Material wiederaufgreifen und zur Geltung bringen: eine Hommage an die grossen Komponisten der Vergangenheit.

Der flämische Komponist Johannes Ghiselin, auch Verbonnet genannt, spielt in Canti C eine bedeutendere Rolle als in den beiden vorangegangenen Instrumentalbänden. , Seiner Vertonung des Mottos Karls des Kühnen («Je l’ay empris») lässt sich entnehmen, dass er wahrscheinlich in den 1470er Jahren am Burgunder Hof tätig war.

Als Schüler von Johannes Okeghem war er auch einer der engsten Gefährten von Josquin des Prez an der Kapelle von Ercole I d’Este in Ferrara. Nachdem Ghiselin 1505 vor der Pestepidemie aus der Stadt geflohen war, wurde er 1507 in den Büchern der Liebfrauen-Gilde in Bergen op Zoom erwähnt, woraufhin sich seine Spur verliert.

Das Programm wird mit seiner dreistimmigen Paraphrase der Antiphon Favus distillans eröffnet. Dieser Text aus dem Hohelied wurde traditionell an den Marienfesten Mariä Himmelfahrt und Mariä Geburt gesungen. In Ghiselins Stück bewegen sich die beiden Oberstimmen auf homogene und floride Weise, während der Tenor die phrygische gregorianische Melodie in langen Werten wiedergibt. Vostre a jamais / Je n’ay deuil ist ein ohne Text überliefertes Lied, wahrscheinlich ein fünfzeiliges Rondeau. Als Hommage an seinen Lehrer komponierte Ghiselin die Kontratenorstimme um das Anfangsmotiv des Rondeaus J’en ay deuil que je ne suis morte von Johannes Okeghem. Dieses Lied, das bereits in den 1460er Jahren im Loiretal verbreitet war, stellt den Schmerz einer Frau in den Vordergrund, die sich infolge des Verlusts ihres Freundes nach dem Tod sehnt. Die vier polyphonen Stimmen sind in diesem Werk hinsichtlich seiner Entstehungszeit ungewöhnlich weit voneinander entfernt, wodurch ein Eindruck von Distanz und Isolation entsteht.

Das Rondeau Tart ara mon cueur sa plaisance ist die einzige Komposition von Jean Molinet, deren Zuschreibung sicher ist. Dieser Dichter und Historiograph, der in den 1460er und 1470er Jahren am burgundischen Hof tätig war, wird mit vielen bedeutenden Musikern seiner Zeit in Verbindung gebracht. Er führte eine dichterische Korrespondenz mit Antoine Busnoys, Loyset Compère, Verjus und verkehrte offensichtlich auch mit Okeghem, da er zwei Epitaphien zum Tod des Komponisten schrieb, von denen eine von Josquin des Prez vertont wurde. Tart ara mon cueur sa plaisance zeichnet sich als frühes Beispiel eines vierstimmigen Liedes und durch seine offensichtliche Beliebtheit aus, die es zu einem der am häufigsten kopierten Lieder seines Jahrzehnts machte. Heinrich Isaac, der in denselben kulturellen Kreisen wie Obrecht und Ghiselin aktiv war, komponierte mehr als 20 Instrumentalstücke, die auf bereits existierenden Liedern basieren. Sein Tart ara ist eine lange Fantasie über den Tenor von Molinet, neben dem sich der Superius und der Bassus sehr frei bewegen, die melodischen Phrasen austauschen, umkehren und mit den von Isaac so geliebten motivischen Sequenzen spielen.

Der aus dem Hennegau stammende Okeghem verbrachte den grössten Teil seiner aktiven Laufbahn am Hof des französischen Königs und reiste vermutlich nie nach Italien. Als einer der wichtigsten Musiker des 15. Jahrhunderts angesehen und von seinen Zeitgenossen sowohl wegen seiner künstlerischen als auch menschlichen Qualitäten sehr geschätzt, wurde sein Tod im Februar 1497 von den Dichtern und Musikern der Zeit beklagt, u. a. von Guillaume Crétin, Jean Molinet, Josquin, Johannes Lupi und Loyset Compère. Petrucci beschloss, Canti C mit dem kanonischen Rondeau Prenez sur moi vostre exemple amoureux abzuschliessen, einem der Werke Okeghems, das von Musiktheoretikern des 16. Jahrhunderts am meisten diskutiert wurde, insbesondere wegen seiner rätselhaften Schlüsselsignatur. Die einzige Stimme, die den Spieler:innen präsentiert wird, muss dreistimmig in einem strengen Kanon ausgeführt werden, wobei jede Stimme im Quartabstand in einer anderen Tonart beginnt. Die Kombination dieser Linien ist nicht nur eine technische Meisterleistung, sondern verleiht der Musik auch eine nostalgisch verträumte Atmosphäre.

Okeghems Ruf unter den Komponisten seiner Zeit wird vielleicht nicht besser durch das Lob von Dichtern oder Theoretikern illustriert als durch die vielen Werke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, die direkt auf seinen Liedern basieren oder seine Musik zitieren. Fors seulement nimmt unter diesen Kompositionen eine besondere Stellung ein: In Canti C finden sich fünf Bearbeitungen dieses Rondeaus. Unter den drei von uns ausgewählten Versionen ist die von Jacob Obrecht sicherlich die markanteste, die den Cantus firmus in den hypophrygischen Modus transponiert, in den Kontratenor setzt und mit dem ursprüngliche Initialmotiv in den anderen Stimmen kombiniert.

Im Vergleich zu den beiden vorherigen Bänden hat Petrucci in Canti C mehr Stücke mit niederländischen Titeln aufgenommen. Myn hert heeft altijts verlanghen, Vueit ghy, Ay mi ay mi wat zal ic doen und Helas hic moet my liden zeugen von einer gewissen Vorliebe für diese Sprache und erinnern uns an die Herkunft der meisten der hier vertretenen Komponisten. Im Allgemeinen sind diese flämischen Lieder nur mässig überliefert. Sie wurden auch nicht oft als Vorlage für andere Kompositionen verwendet, was sie zu selten gehörten Werken macht.

Prof. Baptiste Romain

 

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