Lieder ohne Worte

Das Rätsel um ein textloses Chansonnier (c1473)
So 26.03.23 Thema 17:30 Konzert 18:15

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

«Lieder ohne Worte» | Das Rätsel um ein textloses Chansonnier (c1473)

W

as wäre ein angemessenes Geschenk für eine Promihochzeit im Italien des 15. Jahrhunderts gewesen? Eine persönlich angefertigte und gewidmete Prunkhandschrift zählte auf jeden Fall zu den Top Ten. Was, wenn sie nicht rechtzeitig fertig wurde, wenn eine der beteiligten Werkstätten in Florenz nicht fristgemäss lieferte? Dann blieb das Prunkstück unvollendet, im vorliegenden Fall: textlos.

Das «Berliner Chansonnier» wurde offenbar anlässlich der Hochzeit von Margherita aus der Kaufmannsfamilie der Castellani mit dem Patrizier Bernardino Niccolini in Auftrag gegeben, vermutlich zum Anlass nicht rechtzeitig fertig und dann – seines Zwecks beraubt – aufgegeben. Übrig geblieben ist eine Sammlung von 42 Chansons der burgundischen Schule ohne jegliche Liedtexte geschweige denn Komponistennamen, was zur Vernachlässigung dieser Quelle geführt hat.

Aus Konkordanzen können wir alle bis auf neun Stücke mit Texten und teils Komponisten rekonstruieren – darunter die grössten Namen der Zeit: Du Fay, Binchois, Bedyngham, Dunstable, Frye – erstaunlich viele Engländer finden sich dabei. Die neun übrigen sind Kompositionen, die nur in dieser Handschrift enthalten und sonst unbekannt sind.

In Kooperation mit Clemens Goldberg, dessen Stiftung 2022 die erste Farbfotographie der Handschrift herstellte, bringt ReRenaissance den Inhalt dieser einzigartig schönen Quelle erstmals auf die Bühne, darunter auch bislang ungehörte Unica.

Tessa Roos – Gesang | Simon MacHale – Gesang | Raitis Grigalis – Gesang | Vera Schnider – Harfe | Claire Piganiol – Harfe | Marc Lewon – Laute, Quinterne; Leitung

Kooperation mit der Goldberg Stiftung

17:30 Einführung zum Thema durch Clemens Goldberg

Tickets/Reservationen: Sie können in den ersten drei Sitzreihen nummerierte Plätze erwerben (ab CHF 35). Die restlichen 100 Plätze sind unnummeriert, auch für diese können Sie eine Art Reservation mit Wunschpreis machen, so dass Sie sicher einen Sitzplatz haben im Konzert: Z.B. einfach Ticketpreis CHF=O eingeben und wie gewohnt beim Ausgang eine Kollekte  geben oder gleich bei der Bestellung online einen Wunschpreis einzahlen. Sie können aber auch gerne einfach anrufen auf die Nummer 079 7448548.

«Berliner Chansonnier» fol. 2v, Schule von Florenz, um 1480. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett (Foto: Dietmar Katz)

Video

Berlin Chansonnier | Songs Without Words

Teaservlog zu «Lieder ohne Worte» Das Rätsel um ein textloses Chansonnier (c1473)
Video Bearbeitung Grace Newcombe; Camera Andrew Burn

Interview

Interview mit Vera Schnider, Spezialistin für moderne und historische Harfe, seit August 2022 Dozentin für historische Harfe an der Musikschule der Schola Cantorum Basiliensis

Thomas Christ (TC): Liebe Vera, wir freuen uns,  dich als eine der bekanntesten und vielseitigsten Harfenistinnen deiner Generation interviewen zu dürfen. Wann und wie hast du die Harfe für dich entdeckt?

Vera Schnider (VS): Da gibt es ein einschneidendes Erlebnis, das mich heute leicht erröten lässt. Das erste Mal, dass ich eine Harfe gesehen habe, war während der Eröffnung der wiederaufgebauten Kapellbrücke in Luzern: Drei Musikerinnen fuhren Harfe spielend auf einem Nachen unter der Brücke durch. Daraufhin wollte ich das Instrument unbedingt spielen lernen. Retrospektiv frage ich mich, ob ich ihr Spiel überhaupt gehört hatte, oder mich lediglich vom Anblick blenden liess?

TC: Die Harfe ist eines der  ältesten Musikinstrumente und hatte in der frühgeschichtlichen Musizierpraxis einen sehr hohen Stellenwert. Im alten Orient durften Frauen offenbar nur Harfe spielen. Könntest du uns etwas über die Sozialgeschichte der Harfe berichten? Gibt es einen Grund, warum auch heute mehrheitlich Frauen zu diesem Instrument greifen?

VS: Ich empfinde diesen Eindruck als grossen Widerspruch zu den Fakten: Spätestens seit dem frühen Mittelalter wird die Harfe auf Kunstwerken mehrheitlich mit männlichen Spielern dargestellt. Ich kenne auch nur Namen von Harfenisten aus dieser Zeit. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert treffen wir ebenfalls meist auf Männer. Eine grosse Ausnahme dürfte die Zeit um 1800 sein; im Rahmen von Salonmusiken traten wohlhabendere Frauen oftmals mit der Harfe auf. Wenn du von Sozialgeschichte sprichst, finde ich es  interessant, anzumerken, dass hierbei zumeist ein leichteres Genre gepflegt wurde. Da wird die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihre Rolle als Musikantin zur guten, gepflegten Unterhaltung fassbar. Diese Damen wurden aber allesamt von Maîtres ausgebildet!
Die Tradition  «wahrer» Harfenvirtuosen scheint damals also doch eine männliche gewesen zu sein. Und auch heute gibt es etwa in Frankreich eine grosse Anzahl von Harfenisten, was unser Bild des  vermeintlich femininen Instruments in ein etwas anderes Licht rückt. Und dennoch: Mit dem Klang der Harfe scheint man etwas genuin Weibliches zu verbinden. Dazu kommt wohl noch das Visuelle, die zierliche Frau an dem Instrument mit dem zarten Klang.
Ich spüre dieses Denken häufig, wenn etwa im Basso Continuo über Instrumentierung diskutiert wird: Die Harfe soll klingen, wenn es um das Himmlische, Weibliche geht. Ich frage mich häufig, wie man das vor 400 Jahren gesehen hätte.

TC: Ausgehend von der zeitgenössischen Musik hat dich dein künstlerischer Werdegang «zurück» zur Frühen Musik geführt. Kann es sein, dass der Brückenschlag – gerade hinsichtlich der Verzierungs- und Improvisationspraxis – von der Moderne zur Musik des Barock oder der Renaissance naheliegender ist, als zur Klassik? Deine breite Aufführungspraxis vermittelt jedenfalls den Eindruck einer grossen Experimentierfreudigkeit.

VS: Ich glaube, es war oder ist die schiere Neugier. Ich halte es nicht aus, nur einen kleinen Abschnitt zu kennen. Ich muss wissen, was davor oder danach war; mich interessiert das Kontinuum. Und wenn man ein modernes Instrument studiert und ein frühes Werk spielt, kommt in Einem die «dunkle» Ahnung auf, dass das klangliche Ergebnis nicht die letzte Wahrheit sein kann … Irgendwann hörte ich Aufnahmen von italienischer Musik des 16. Jahrhundert. mit historischem Instrumentarium, und war komplett elektrisiert. Das hat obiges Unbehagen bestärkt und musste logischerweise in eine Ausbildung in Früher Musik münden.
Die zeitgenössische Musik öffnet hier ein ähnliches Feld: Ich muss jedes Mal lernen, neu zu hören, mich auf die unterschiedlichen Ästhetiken der einzelnen Komponist:innen einlassen, mein Instrument, dessen Klang und die dazugehörigen Spieltechniken neu denken.
Und was wohl auch zentral ist, ist eine gewisse Komplexität. Mich interessiert der Widerstand; ich möchte mich an einem Notentext abarbeiten, auch etwas nach Sinn ringen und suchen. Ich möchte Stile ausleuchten, mich immer wieder mit dem Scheitern konfrontieren, mir neue Hörgewohnheiten antrainieren. Wenn es zu bequem wird, ziehe ich weiter – das macht es ein Stück weit auch anstrengend. Insofern müsste ich deine Frage einschränken und sagen, der Weg in den klassischen Musikbetrieb wäre fatal für mich gewesen, nicht in die Klassik per se.

TC: Du kuratierst nicht nur Musikfestivals, sondern interessierst dich auch für kulturpolitische Fragen in der Schweiz. Hat unsere aktuelle Politik die gesellschaftliche Relevanz der allgemeinen Musikerziehung verstanden? Wo siehst du als Expertin – im Fachausschuss Musik beider Basel – noch Handlungsbedarf?

VS: Dass ich die Musik des Heute nie ablegen konnte, hat viel mit meinem Verständnis von Kunst zu tun: Ich glaube an die Relevanz unseres Tuns, ich bin überzeugt, dass eine gesunde Gesellschaft Kunst braucht und dass Kunst ein Reflexionsort ist, der sichtbar macht, was untergründig vorhanden ist. Gerade mit der Harfe will ich mich deutlich vom rein Unterhaltsamen distanzieren. Ich kann durch die zeitgenössische Musik aktiv am heutigen Kulturschaffen teilnehmen, als Mensch des 21. Jahrhunderts. Schweigen ist besonders  im Hinblick auf die aktuellen Umbrüchen keine Option für mich.
In Basel scheint mir die politische Lage sehr wohlwollend zu sein, es herrscht ein Klima des Ermöglichens. Einzig treibt mich die Frage um, wie regulativ Politik sein sollte. Hier votiere ich für die völlige Kunstfreiheit, gerade, um der Gesellschaft immer einen Schritt voraus sein zu können. Allerdings fürchte ich, dass wir uns abseits aller Politik selbst einen Elfenbeinturm geschaffen haben. Ich denke viel darüber nach, wie wir wieder in der Gesellschaft ankommen  und uns dabei trotzdem treu bleiben können. Insofern sehe ich vor allem bei uns Komponist: innen und Musiker:innen Handlungsbedarf.

TC: Meine letzte Frage betrifft aus gegebenem Anlass immer wieder das neuerdings auflebende Interesse an Renaissancemusik. Wird die Musik vor 1600 ein Nischenerlebnis für ein versiertes Publikum bleiben oder sich bald einer grösseren Breitenwirkung erfreuen?

VS: Ich halte es hier ähnlich wie mit der zeitgenössischen Musik: Ich als Interpretin habe die Verantwortung, die heutige oder die vergangene Zeit so sorgfältig wie möglich hörbar zu machen. Ich muss durch mein Tun Relevanz schaffen. Man darf da nicht zu sehr auf Aussenwirkung bedacht sein, keinem Hype aufspringen. Dies erlebe ich bei ReRenaissance sehr stark! Dazu kommt die liebevolle Gestaltung der Reihe, durch die beteiligten Menschen, durch die Graphik, die magischen Orte ReRenaissance ist ja glücklicherweise bereits eine Erfolgsgeschichte. Insofern: Möge die Musik für sich selbst sprechen!

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Kolumne

Geleitworte zum Konzert «Lieder ohne Worte»

von Dr. Peter Reidemeister (Leiter der Schola Cantorum Basiliensis 1978–2005)

Für mich ist dieses Programm bei «ReRenaissance» eine «Wiedergeburt» im wahrsten Sinne, eine Neu-Entdeckung und Neu-Interpretation des Themas meiner Beschäftigung mit der Chanson-Handschrift des Berliner Kupferstichkabinetts vor annähernd 50 Jahren.

Damals gab es noch keine (englisch benannte) Master-Arbeit, sondern eine (lateinisch betitelte) Magister-Arbeit, um zu üben und zu zeigen, dass man danach ein gewichtigeres Thema und eine umfangreichere Arbeit, die Dissertation, in Angriff nehmen könne. Meine Themenwahl sollte deshalb meine geschichtlichen und meine musikalischen Interessen zusammenführen und Platz lassen für eine anspruchsvollere Arbeit, über die ich mit meinem Lehrer, Prof. Carl Dahlhaus, schon im Gespräch war. Es kam aber anders.

Zum Berliner Kupferstichkabinett, dem Aufbewahrungsort der Handschrift, um die es hier geht, hatte ich insofern persönliche Beziehungen, als mein Vater Direktor der Berliner Museen war. Als ich dort im Katalog bei der Suche nach Musikalischem fündig wurde, war das Interesse gross, nicht nur auf meiner, sondern auch auf Seiten der Mitarbeitenden, die über das Manuskript nicht viel wussten und gerne mehr wissen wollten. Die Recherchen führten mich in der Folge sowohl durch alle anderen (gar nicht so wenigen) Parallel-Handschriften des 15. Jahrhunderts, um herauszufinden, ob es in unserer Sammlung «Unica» gibt, also Stücke, die nur hier überliefert sind, als auch bis in die Bibliothek von Perugia, um anhand der dort zu findenden Wappen-Bücher das «Allianz-Wappen» der Handschrift und damit deren Datierung zu bestimmen – das Internet gab es noch nicht.

Zu meiner grenzenlosen Überraschung erhielt ich vier Wochen später einen Brief (den ich bis zum heutigen Tag aufbewahre…) von Prof. Dahlhaus mit dem Vorschlag, die Arbeit ohne Änderungen in eine Dissertation umzuwandeln und die mündlichen Prüfungen zu terminieren. Offensichtlich gab es zwar viele Studierende, aber zu wenige vorweisbare Abschlüsse… Nur durch dieses Wunder war ich dann zur richtigen Zeit am richtigen Platz, als 1973 ein Stellvertreter des Schola-Leiters Prof. Wulf Arlt gesucht wurde. Wie wäre mein Leben wohl weitergegangen, wenn ich damals noch über Jahre eine andere Dissertation hätte schreiben müssen?

Und nun die zweite grosse Freude: die Stücke der Handschrift, und besonders die Unica, zu hören, und zwar in Aufführungen auf dem heutigen Entwicklungsstand der Aufführungspraxis und auf dem Niveau, das unsere Basler Musiker:innen auf der Basis ihrer hiesigen Ausbildung garantieren. Wie werden die Stücke klingen? Wie wird über die vokale oder instrumentale Besetzung entschieden? Wie werden die Probleme der fehlenden Texte gelöst?

Ein sehr besonderer Abend für mich!

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