ie aus Polen stammende Sängerin Agnieszka Budzińska-Bennett und andere Spezialisten der frühen Musik nehmen uns mit auf die Spuren von Mikolaj Gomólka (1535-1609).
Der polnische Komponist vertonte die von Jan Kochanowski in Reime gesetzten Psalmen Davids. Dabei legte er höchsten Wert auf die Verbindung von Text und Musik. seine Raffinesse im Umgang mit den Nuancen der polnischen Sprache bereitete den Weg zu einem nationalen Kunststil.
Agnieszka Budzińska -Bennett – Gesang, Leitung | Marc Lewon – Laute, Renaissancegitarre und Altgambe | Leonardo Bortolotto – Bass- und Diskantgambe | Caroline Ritchie – Bassgambe | Masako Art – Tripelharfe und Renaissanceharfe | Elizabeth Rumsey: Produktion
Vlog Juni 2022 zu «Psalmy Dawida» – Melodien aus dem polnischen Psalter
Agnieszka Budzińska-Bennett – Sängerin, Harfenistin und Musikwissenschaftlerin
Thomas Christ (TC): Wie kommt man als diplomierte polnische Pianistin von Stettin via Posen nach Basel an die Schola Cantorum? Kamst du über die Musikwissenschaft zur Frühen Musik oder gibt es – wie so oft – ein musikalisches Schlüsselerlebnis?
Agnieszka Budzińska-Bennett (ABB): Seit ich eine Teenagerin war, schlug mein Herz für die Alte Musik. Zuerst war es die Barockmusik. Schlüsselerlebnisse waren dabei die Stimmen von Emma Kirkby, Paul Elliott und David Thomas im legendären «Messias» mit Christopher Hogwood – bis heute kriege ich Gänsehaut, wenn ich diese Interpretation höre.
Dann aber, als ich so 16 Jahre alt war, habe ich das Mittelalter entdeckt. Es waren die visionären Aufnahmen von René Clemencic, David Munrow und Gothic Voices (damals in Polen sehr schwierig zu kriegen). Ich finde sie auch heute unglaublich wichtig dank ihrer Transparenz, ihrem Respekt dem Werk gegenüber und dank der unglaublich schöpferischen Kraft – das waren ja eigentlich die grossen Pioniere!
Die von Dir angesprochene «Grenzerfahrung» war ein Ausschnitt aus dem «Beowulf», vorgetragen von Benjamin Bagby (Sequentia), einem der grossartigsten Künstler der Alten Musik, die mir je begegnet sind. Stell Dir ein Fragment eines angelsächsischen Epos vor, das vielleicht irgendwann einmal gesungen wurde (ohne erhaltene Musiknotation) und von dem kein Wort zu verstehen ist, vorgetragen von einem einzelnen Sänger, der sich selbst auf einer sechssaitigen Leier begleitet. Manchmal konnte man ein Wort heraushören, das wie eine Mischung aus Englisch, Deutsch oder Altnordisch klang, aber im Allgemeinen war nichts zu verstehen (das war noch die Zeit, als Ben dieses Epos ohne Untertitel aufführte!). Und doch war es ein so erstaunliches Erlebnis, auf seine eigene Weise eine so klare Botschaft, dass jeder von uns (und es geschah während eines der legendären mittelalterlichen Musikfestivals in Stary Sącz in Südpolen) genau wusste, wann in diesem melodramatisch rezitierten Text der Drache die dritte Klaue seines linken Hinterbeins bewegte und was in der Seele des heldenhaften Beowulf vor sich ging. Das hat mich unendlich fasziniert. In diesem Moment erkannte ich mit grosser Klarheit die Macht der Worte, die den Zuhörer so direkt erreichen können, sowohl intellektuell als auch emotional. Da kam mir der Gedanke, dass auch ich eines Tages so etwas machen möchte und könnte.
So verdanke ich mein Werdegang und meine Ästhetik meinem Mentor und Freund Ben, durch diesen Einfluss bin ich auch in Basel gelandet, damals der einzige Ort, wo man mittelalterliche Musik studieren konnte.
TC: Du hast dich eingehend mit den Wurzeln der Musik, insbesondere der Volkslieder beschäftigt. Wir kennen ansatzweise die Frühe Musik Italiens, Frankreichs, Deutschlands und Englands – worin bestehen die wesentlichen Unterschiede zur Frühen Musik in Osteuropa, insbesondere in deiner musikalischen Heimat Polen?
ABB: Ich habe mich nie mit Volksmusik beschäftigt (lediglich ein paar ethnomusikwissenschaftliche Module im Studium belegt), hingegen aber mit den ältesten schriftlichen Zeugen des musikalischen Schaffens vieler Länder – darunter auch Polen, das übrigens zu Zentraleuropa gehört. Die Unterschiede sind nicht so gross: am Anfang gibt es liturgische Musik auf Latein mit ausgeliehenem Material, dann kommt die lokale Produktion auf Latein und dann auch in der Landessprache, es gibt viel Austausch mit Nachbarländern (Deutschland, Böhmen, etc.) und ebenso einen grossen Repertoiretransfer. Wegen der relativ späten Christianisierung (966) entwickelt sich alles etwas später als in Westeuropa, aber schon im späten 13. Jahrhundert finden sich in den südpolnischen Klarissenklöstern die Fragmente der Handschriften aus der Pariser Notre Dame – ob sie tatsächlich aufgeführt worden sind, ist eine andere Frage – und man weiss von lokalen Versuchen, die damals äusserst seltene Vierstimmigkeit zu studieren. Und im 15. Jahrhundert sind wir in Polen tatsächlich up-to-date: die internationalen und lokalen Repertoires leben harmonisch nebeneinander und es gibt Komponisten, die die neusten Errungenschaften sofort in die lokale Praxis inkorporieren, wie z. B. Nikolaus de Radom, der kurz nach Guillaume Dufay (1400–1474) auch einen «Fauxbourdon» (dreistimmiger Gesang über eine Psalmmelodie) in seinen Kompositionen einsetzt. Und in der Renaissance werden die polnischen Komponisten und Musiker in ganz Europa bekannt – ein Paradebeispiel ist Wacław z Szamotuł, dessen Motetten in Nürnberg gedruckt werden, neben Orlando di Lasso, Thomas Crequillon, Clemens non Papa, Adrian Willaert, Philippe Verdelot, Nicolas Gombert and Josquin.
TC: Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, mit meiner Frage noch mehr an den Rand Europas zu reisen. Du bist nicht nur mit früher isländischer Musik aufgetreten, sondern hast dich auch dem Studium der Skandinavistik gewidmet. Gibt es eine skandinavische Barock- oder gar Renaissancemusik, oder waren das nicht vielmehr importierte höfische oder kirchliche Melodien?
ABB: Skandinavien ist die CD-Reihe «Mare Balticum» meines Ensembles Peregrina gewidmet (4 Alben, beim Tacet 2017–21 erschienen). Das spät eingeführte Christentum hat sehr individuelle Lösungen gefördert, insofern ist die Musik aus Dänemark, Schweden oder Finnland schon etwas anders. Einerseits gibt es gängige importierte Melodien (auch Kontrafakturen) – als Beispiel kann ich hier die Messteile mit bekannten Choralmelodien aber auf Altfinnisch erwähnen (haben wir auch aufgenommen!). Anderseits gibt es im Norden viele Experimente, auch im Bereich der Mehrstimmigkeit, die sehr eigenartig sind. Und dadurch unglaublich faszinierend!
TC: Vor bald 35 Jahren hast du dein Ensemble für mittelalterliche Musik «Peregrina» gegründet – da bleiben wir abermals beim Thema, denn der Name hat in seiner Bedeutung des Wanderers oder Wallfahrers eine programmatische Bedeutung. Haben sich Musikstile mit der Völkerwanderung verbreitet und lokale Melodien bereichert oder eher verdrängt?
ABB: Diverse Einflüsse durch die reisenden Musiker gab es immer. Unser Notker Balbulus (Gelehrter und Dichter aus karolingischer Zeit) aus Sankt Gallen erwähnt eine Handschrift, die aus Jumièges gebracht wurde und ihn auf eine revolutionäre Idee gebracht hat (es handelt sich um frühe Sequenzen). Anderseits gingen mit der gregorianischen Reform viele lokale Idiome des Chorals verloren. Es ist ein ewiges Spiel mit gegenseitig befruchtenden Einflüssen, aber auch eine Geschichte der Verluste durch das Einsetzen neuer Trends.
TC: Meine letzte Frage betrifft wie immer den kompositorischen, aber auch medialen Vergleich der Renaissanceentdeckungen zur heute gespielten Barockmusik. Letztere erfreut sich seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit, während die Renaissancemusik etwas in ihrer Intimität verharrt. Liegt das am Zeitgeist oder an der medialen Vermittlung oder schlicht an der relativen «Unerforschtheit» jener frühen Musik?
ABB: Renaissancemusik (wie auch die mittelalterliche) verlangt viel mehr vom Zuhörer. Es sind (leider immer noch) fremde Klänge, fremde Sprachen, komplizierte Formen und Gattungen, deren Kontext gar nicht so einfach zu erklären und verstehen ist. Die Schnellheit des Lebens und das «Unspektakuläre» der alten Kunst begünstigen die Vermittlung von Renaissancemusik nicht besonders. Ich habe aber das Vertrauen und sehe es auch bei meinen vielen Reisen durch die Welt, dass es ein immer breiteres und bewussteres Publikum gibt, welches unsere Arbeit schätzt und fördert. Das gibt uns viel Kraft. Und das ist gut so, denn die Arbeit hat erst angefangen.
(geschrieben im Mai 2022)
Bei einer «Hitparade» soll anhand der Verkaufszahlen von Tonträgern die Beliebtheit von Musiktiteln gemessen werden (dies geschah übrigens vor dem Siegeszug der Schallplatte anfangs anhand von verkauften Notenblättern und später von öffentlich aufgestellten Jukeboxen, heute wird auch das Streaming einbezogen). Wollte man nun eine «Hitparade» der Renaissance ermitteln, so hätte man in den verschiedenen Psaltervertonungen zu suchen, die sich im Zuge der Protestantischen Reformation sich in den reformierten Gebieten Europas verbreiteten. Denn vorwiegend diese Musik wurde im reformierten Gottesdienst wie zur Andacht zu Hause gesungen und musiziert.
In mehreren Konzerten von «ReRenaissance» waren schon verschiedene Beispiele davon zu hören, wie Jean Calvins metrische Übersetzungen des biblischen Psalters musikalisch umgesetzt wurden (ich erinnere mich gut an das Konzert im letzten Oktober, wo auch die singulär in der Basler Universitätsbibliothek erhaltene hebräische «Rücktextierung» zu einer Melodie des Genfer Psalters erklang). Im nächsten Konzert sind die Psaltervertonungen des polnischen Komponisten Mikołaj Gomółka zu entdecken, die als «Melodien für den Polnischen Psalter» 1580 in Kraków erschienen und in Polen weit verbreitet waren. Ich gespannt, welchen Platz sie in den von mir imaginierten Renaissance-Charts einnehmen werden …
(im Januar 2021; Das Konzert ist auf Juni 2022 verschoben. Übersetzung Marc Lewon)
Für jeden Musikliebhaber, der schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, ist eine der grossen Faszinationen im Leben die schiere Menge an Musik, die es gibt und die man noch nie zu Ohren bekommen hat. Und das ist bei mir der Fall mit Gomółka. Ich weiss, dass sein einziges bekanntes Werk eine Reihe von 150 vierstimmigen Psalmvertonungen in schlichtem Stil ist, die 1580 gedruckt wurden; ausserdem weiss ich, dass Agnieszka Budzińska-Bennett und Marc Lewon mit Elizabeth Rumsey seit einiger Zeit ein Gesamteinspielung vorgenommen haben. Aber bis heute habe ich keine einzige Note gehört, und ich freue mich wirklich darauf, etwas über den Komponisten zu erfahren, dem diese wunderbaren Musiker so viel Zeit und Energie gewidmet haben.
1. Niech co chce będźie
Quam bonus Israhel Deus (Ps. 73)
2. Pana wołam
Voce mea ad Dominum clamavi (Ps. 142bis)
(Consort)
3. Broń mię, móy Panie
Eripe me Domine (Ps. 140)
4. A Pollish Ayre – Tobias Hume (c1579–1645)
The First Part of Ayres, French, Pollish and Others, London (John Windet) 1605.
(Bassgambe)
5. Mocą imienia swego
Deus in nomine Tuo (Ps. 54)
6. In te Domine speravi (Ps. 31) – Wacław z Szamotuł (c1520–c1560)
Psalmorum selectorum, Tomus 4, Nürnberg (Johann vom Berg) 1554
(Harfe)
7. Jako na puszczy prędkimi psy szczwana
Quemadmodum desiderat cervus (Ps. 42)
(Bassgambe & Harfe)
8. Chwalćie Pana prze dobroć Iego niewymowną
Confitemini Domino quoniam bonus (Ps. 107)
9. Ricercar – anonym (c1590)
Den Haag, Gemeentemuseum, Musziekafdeling, Ms. 28.B.39 («Das Siena Lautenbuch», c1590), fol. 20r–v
(Laute)
10. Mam przecz Pana miłować
Dilexi quoniam exaudiet Dominus (Ps. 116)
11. Panie, za Twoią zawżdy pomocą
Domine in virtute Tua laetabitur rex (Ps. 21)
12. Błogosław, duszo moia
Benedic anima mea (Ps. 103)
13. Cantate Domino (Ps. 149) – Adam Jarzębski (c1590–c1648)
Contrafactum auf «Vestiva i colli» – Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594)
Canzoni è Concerti a due, tre è quattro voci cum Basso Continuo, 1627 (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. mus. 111)
(Diskantgambe, Bassgambe, Harfe)
14. Kto syę w opiekę poda Panu swemu
Qui habitat in adiutorio altissimi (Ps. 91)
15. Pomni, Panie, Dawida
Memento Domine David (Ps. 132)
16. Serce mi każe śpiewać
Eructavit cor meum (Ps. 45bis)
(Consort)
17. Panu swemu daymy cześć rymy nowemi
Cantate Domino canticum novum (Ps. 149)
18. Panu swemu daymy czesc rymy nowemi Cantate Domino canticum novum
(Ps. 149)
Die aus Polen stammende Sängerin Agnieszka Budzińska-Bennett und andere Spezialist:innen der frühen Musik nehmen uns mit auf die Spuren von Mikołaj Gomółka (1535–1609).
Der polnische Komponist vertonte die von Jan Kochanowski in Reime gesetzten Psalmen Davids. Dabei legte er höchsten Wert auf die Verbindung von Text und Musik. Seine Raffinesse im Umgang mit den Nuancen der polnischen Sprache bereitete den Weg zu einem nationalen Kunststil.
Agnieszka Budzińska-Bennett – Gesang, Leitung
Marc Lewon – Laute, Renaissancegitarre und Altgambe
Leonardo Bortolotto – Bass- und Diskantgambe
Masako Art – Tripel- und Renaissanceharfe
Caroline Ritchie – Bassgambe
Elizabeth Rumsey: Produktion
Eintritt frei – Kollekte
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Liestal
Stadtkirche
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Basel, Martinskirche