Unerhörtes aus dem Loiretal

Neue Musik aus dem Leuven Chansonnier
So 26.07.20

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

E

s geschehen immer wieder Zeichen und Wunder: Man glaubt, alle erhaltenen Quellen seien bekannt, alles, was noch da ist, im Wesentlichen erfasst – da taucht eine neue Handschrift auf! Vor wenigen Jahren wurde eine Handschrift versteigert, die sich als Chansonnier der burgundischen Epoche herausstellte: eine Sammlung mehrstimmiger französischer Lieder aus dem Loiretal des späten 15. Jahrhunderts. Darin: bekannte Klassiker der grossen Komponisten, aber auch Überraschendes und Unbekanntes. Im Konzert erklingt eine Auswahl von Liedern des Leuven Chansonniers mit Sängern und Instrumenten, darunter auch einige noch «unerhörte» Melodien.

Tessa Roos – Discantus | Jacob Lawrence – Tenor | Raitis Grigalis – Contratenor Bassus | Mara Winter – Traversflöte | Elizabeth Rumsey – Viola d’arco | Marc Lewon – Laute; Leitung

Interview

Raitis Grigalis – Sänger, Assistent von Andreas Scholl am Mozarteum in Salzburg

Thomas Christ (TC): Raitis Grigalis, das Basler Publikum kennt dich schon einige Jahre als Sänger der Barockliteratur. Ich nehme an, dass dich der Gesang seit deiner frühen Kindheit begleitet hat, deine Heimatstadt Riga gilt ja als das Mekka der Chormusik. Kommst du aus einer Musikerfamilie?

Raitis Grigalis (RG): Meine Eltern sind keine Berufsmusiker, haben sich aber beim Musizieren kennen gelernt. Meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Ingenieur; während beide noch studierten, trafen sie sich im gemischten Jugendchor der Universität in Riga. Meine Mutter sang im Sopran, mein Vater im Bass.

Ich liebe diese Geschichte, denn so bin ich quasi im «Chor geboren», in und mit Chormusik aufgewachsen. Meine Eltern haben mich in die Musikschule Emils Darzins (Chorschule des Rigaer Doms) geschickt, wo ich im Knabenchor die ersten Bühnenerfahrungen gesammelt habe. Später sang ich im gemischten Chor, welcher vom Bruder meines Vaters geleitet wurde. Ganz ohne musikalische Gene bin ich allerdings nicht zur Welt gekommen: Mein Grossvater war in Lettland ein angesehener Chorleiter, Geiger, Organist und Lehrer. Während dem Studium an der Musikhochschule in Riga wirkte ich bei professionellen Ensembles mit, unter anderem auch beim Rigaer Rundfunkchor. Zur gleichen Zeit gründete und leitete ich den Kirchenchor der St. Peters-Kirche in Riga. Dies ist eine amüsante Parallele, denn damals trat ich auch oft in der Basler Peterskirche auf.

TC: Wie hast du den Weg nach Basel gefunden? War die Liebe zur Frühen Musik der einzige Grund?

RG: Mein Interesse für die Alte Musik wurde bereits im Gymnasium geweckt. Später, in der Musikakademie, wo ich mich auch im Dirigieren ausbilden liess, entdeckte ich meine hohe Stimme und entschied mich, den Gesang im akademischen Rahmen weiter zu entwickeln. Anfänglich schaute ich Richtung London – Lettland war damals noch nicht in der EU. Doch mein Studium wäre dort sehr teuer und damit fast unmöglich gewesen. Zufällig traf ich eines Nachmittags auf der Treppe der Hochschule meinen Professor für Musikgeschichte, der mir von Basel und der Schola Cantorum erzählte. Sofort begab ich mich zum frisch eingerichteten Computerraum im obersten Stockwerk und begann mit der Recherche. Als ich beim Öffnen der Website das Foto mit dem schönen Innenhof der Musikakademie in Basel sah, war mir klar – da will ich hin. Allerdings war es bereits April und ich kam mit meiner Anmeldung zu spät. Im Jahr darauf hat dann alles geklappt.

TC: In der Welt der klassischen Musik, insbesondere im Opernrepertoire der grossen Bühnen haben die Barockopern in den letzten Jahrzehnten enorm an Beliebtheit gewonnen. In ganz Europa schossen professionelle Barockensembles wie Pilze in die Musiklandschaft. Im Gegensatz dazu führt die reichhaltige Literatur der Renaissance noch ein eigentliches Schattendasein. Wie erklärst du dir dieses Ungleichgewicht?

RG: Das ist eine komplexere Frage und ich möchte nicht behaupten, dass ich sie übersichtlich und tiefgründig beantworten könnte. Es gibt viele Sprachen auf der Erde, auch jede Musik oder Stilrichtung spricht eine eigene Sprache, und somit verstehen wir die eine besser und die andere eher nicht. Die Sprache der Barockmusik ist uns heute leichter verständlich, weil sie mit ihren dramatischen Effekten expressiv, affektvoll, kontrast- und farbenreich, pompös, prächtig, lyrisch und zugleich intim auftritt. Dies gilt erst recht, wenn sie auf der Opernbühne, mit der ganzen Ausstattung eines barocken oder modernen Opernhauses, oder bei einer Messe mit Trompeten und Pauken zu uns spricht – da bleibt kaum jemand unberührt. Auch in der Renaissance gibt es Genres weltlicher Musik, die leichter aufnehmbar sind, hingegen verlangt der grosse Reichtum der Vokalpolyphonie möglicherweise eine Art ‚Zugangscode’, oder eine gewisse Aufmerksamkeit und Bereitschaft sich einzulassen, zu vertiefen, um die Lust und die Linearität der Musik zu geniessen – denn die Welt, die hinter diesen verschlossenen Türen steht, ist wunderschön. Ich selbst habe in den letzten Jahren sehr viel Polyphonie gesungen und ich liebe es. Es bleibt zu hoffen, dass die ökonomischen Faktoren in der Musikwelt positiv bleiben, damit auch die Musik der Renaissance weiter zum Erblühen kommt.

TC: Du wohnst nun seit 20 Jahren in der Region Basel. Findest du auch hier die Zeit, dich der Chormusik zu widmen?

RG: Klar, wenn ich schon ein Diplom für Chor und Orchesterdirigieren in der Tasche habe, setze ich es auch ein. Die Chorkultur in der Schweiz und speziell in Basel, ist sehr reich und besitzt eine lange Tradition.
Ich staune immer wieder über die vielen grösseren und kleineren Kirchenchöre, die jährlich ein, zwei grosse Konzerte auf die Bühne bringen – mit den klassischen Oratorien und Kantaten, mit Orchester und Solisten. Und dies beinahe in jeder Stadt der Schweiz. Dadurch unterscheidet sich die hiesige Chorkultur von jener in Lettland, denn dort ist alles in der Hauptstadt konzentriert. Eine lange Tradition kirchlicher Musik existiert nicht, denn bedingt durch die geopolitische Lage am Baltischen Meer, die ständigen Kriege und Machtwechsel sind unsere Traditionen immer wieder zerbrochen oder unterbrochen worden. Die Volks- und so auch die Musikkultur wurde durch die Jahrhunderte immer wieder unterdrückt und hat sich eher im Individuellen, im Familienkreis, oder gar im Untergrund weiterentwickelt und bereichert. Der Fundus ist riesig, es gäbe etwa 2 Millionen Volkslieder, nämlich fast für jeden Letten eines. Daraus entstand anfangs des 20. Jahrhunderts eine nationale Identität und schliesslich auch eine professionelle Musikkultur, die eine enorme Widerstandskraft in sich trägt. Dies erklärt, warum sich in Lettland Chöre generationenübergreifend mit dem Singen beschäftigen, denn oft war dies der einzige freie Ausdruck, den man sich leisten konnte. So erstaunt es wenig, dass die alle fünf Jahre stattfindenden Sängerfeste zu einem einzigartigen kulturellen Phänomen herangewachsen sind. Das Festival dauert jeweils eine ganze Woche und endet mit einem Wettbewerb in der Aula der Uni in Riga, wo in jeder Kategorie entschieden wird, wer zum besten Chor des Landes gekürt wird. Dies hat durchaus einen sportlichen Effekt und motiviert vor allem auch jugendliche Sänger:innen. Die Chorkultur wird so sehr ernst genommen und führt zu hohen musikalischen Leistungen, was im Chorklang hörbar wird. Auch ich bin ein Kind jener Chorkultur und zugleich ein Abgänger der Schola Cantorum in Basel: So versuche ich nun beide Kulturgeschichten und Traditionen zusammenzuführen. Zurzeit leite ich den English Seminar Choir der Uni Basel.

TC: Ich habe gehört, dass du auch als Komponist tätig bist. Geht es da auch um Chorwerke? Kannst du uns dazu etwas erzählen?

RC: Das stimmt, ich habe Komposition immer wieder als Nebenfach studiert und tatsächlich geht es mehrheitlich um die Musik für Chor und Stimme, denn das ist der Stoff, den ich am besten kenne, wo ich mich wie ein Fisch im Wasser fühle. Es handelt sich um kleinere geistliche Chorstücke, Psalmvertonungen, aber auch um Stücke mit Texten von Rilke und einige Sätze für Messen. Ich würde mich keineswegs als Avantgardekomponist ansehen, vielmehr ist meine Musik auf praktische, funktionelle und harmonische Vorgaben ausgerichtet, sodass die Komplexität, auch dem nicht-professionellen Ensemble zugänglich bleibt.
Vor ein paar Jahren schrieb ich im Auftrag der katholischen Kirche in Therwil ein Weihnachtsoratorium mit einem Text von Jacqueline Keune, einer freischaffenden Theologin aus Luzern. Er ist es aus der Sicht einer alten Frau konzipiert und spiegelt die eher düsteren, hilflosen und graueren Aspekte der Weihnachtsgeschichte. Und gerade diese Wochen sind wir mit zwei Freunden aus Basel mit der Märchenoper «Schneewittchen» fertig geworden, einem Werk, welches wiederum eine andere Ausdrucksweise, eine andere Instrumentation und andere Stilmittel verarbeitet und als ein Bühnenwerk mit entsprechenden Aufführungsmitteln gedacht ist.

TC: Vielen Dank

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Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Unerhörtes aus dem Loiretal», Juli 2020

Wir haben alle schon einmal davon geträumt, plötzlich auf einer verborgenen Burg in Spaniens Bergen eine unvermutete musikalische Entdeckung zu machen. Und tatsächlich machte vor rund 40 Jahren eine solche Geschichte über die Auffindung von Monteverdis Arianna die Runde; eine weitere dieser Art berichtete zur etwa gleichen Zeit von der Entdeckung von Dufays Messe zur Einweihung von Santa Maria del Fiore in Florenz.

Weder die eine noch die andere trat ein. Und in Wirklichkeit kommen die Überraschungen allesamt aus den grossen Nationalbibliotheken, von denen wir glaubten, sie seien vollständig katalogisiert: der einzigartige Druck einer portugiesischen Tastentabulatur, der in der Königlichen Bibliothek von Spanien als Buch über Arithmetik katalogisiert wurde; das prächtige französische Chansonnier, das auftauchte, als jemand Mikrofilme der weithin bekannten Musikhandschriften 76b, 76c und 76d aus der Universitätsbibliothek von Uppsala bestellte und sich kurzerhand entschloss auch noch 76a zu bestellen, wo er schon dabei war; die kostbaren Musikdrucke von Egenolff, die seit den 1890ern in der Schweizer Nationalbibliothek lagerten, es aber nicht in eines der internationalen Katalogisierungsprojekte geschafft hatten, weil ihre Musikbestände überwiegend neuzeitlich waren.
Die Entdeckung des Leuven Chansonniers aber war eine Entdeckung im wahrsten Sinne des Wortes! Es wurde als Teil eines Sammelpostens – gemeinsam mit einer illuminierten Mariä Heimsuchungsszene und einer hölzernen Marienstatue – für 3600 € von einem Brüsseler Händler ersteigert, der ungefähr ein Jahr später auf den Gedanken kam, einen Musikhistoriker hinzuzuziehen, um einschätzen zu lassen, ob es von besonderem Interesse sein könnte. Professor David Burn von der Universität Leuven erkannte sofort, dass es sich um eine klassische französische Liedersammlung aus der Zeit um 1470 handelte, so wie die längst berühmten Chansonniers von Wolfenbüttel, Dijon und Kopenhagen, aber von kleinerem Format (120 x 85 mm) und einheitlicher geschrieben und verziert. Wie in den genannten Handschriften bestand auch der Inhalt des Leuven Chansonniers vorwiegend aus bekannten Lieder, 12 der 50 Einträge aber waren neu; und unter den bekannten Liedern befanden sich obendrein einige faszinierende neue Lesarten.
Mein Favorit ist das Eröffnungsstück, Walter Fryes Ave regina celorum. Ich habe vor kurzem eine Edition des Stücks aus den bis dato 23 bekannten Quellen aus ganz Europa veröffentlicht. An zwei Stellen gab es musikalische Unmöglichkeiten, die nur durch die Konsultation abwegig randständiger Quellen gelöst werden konnten: die Ergebnisse waren nicht besonders elegant, aber sie funktionierten. Das Leuven Chansonnier bot eine sowohl einmalige wie durch und durch elegante Fassung für beide Stellen. Ein Vergleich mit der Geschichte vom «verlorenen Sohn» ist eine Untertreibung: sei aufs freundlichste Willkommen geheissen, Leuven Chansonnier!

(Übersetzung: Marc Lewon)

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Programm

1. Ave Regina celorum – Walter Frye (†1475)
LC1, fol.1v–3r

2. L’omme banny (instrumental, Rondeau) – Barbingant (tätig c1445/60) / Johannes Fedé (c1415–1477)
LC8, fol.11v–13r

3. Quant j’ay au cueur (Rondeau) – Antoine Busnoys (c1430–1492)
LC41, fol.65v–67r

4. Tout a par moy (Rondeau) – Walter Frye / Gilles de Bins, dit Binchois (c1400–1460)
LC27, fol.39v–41r

5. Ma maistressse (instrumental, Virelai) –  Johannes Okeghem (c1410–1497)
LC25, fol.34v–37r

6. Donnez l’aumosne (Virelai) – Antoine Busnoys? (Unicum)
LC 31, fol.47v–50r

7. Est il mercy (instrumental, Rondeau) – Antoine Busnoys
LC42, fol.68v–70r

8. Vraiz amans (Rondeau) – anonym (Unicum)
LC48, fol.78v–79r

9. Cent mil escuz (Rondeau) – Firminus Caron (tätig c1460/75) / Antoine Busnoys
LC19, fol.23v–25r

10. Si vous voullez (Virelai) – Alexander Agricola? (1445/6–1506, Unicum)
LC34,fol.52v–54r

11. Au travail suis (Rondeau) – Barbingant / Johannes Okeghem
LC23, fol.31v–32r

12. Henri Phlippet (instrumental, Rondeau) – anonym (Unicum)
LC50, fol.80v–81r

13. Oublie, oublie (Rondeau) – anonym (Unicum)
LC18, fol.22v–23r

 

Quelle: Leuven Chansonnier (LC; Loiretal, ca.1470), Katholieke Universiteit Leuven, s.s.

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