napp 50 Jahre nachdem Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern erfunden hatte, war es endlich auch für die Musik soweit: 1501 legte Ottaviano Petrucci mit dem Odhecaton A in Venedig seinen ersten Notendruck vor und löste eine Welle an Innovationen in der Musikwelt des 16. Jahrhunderts aus, die bis heute unsere Kultur prägt. Aus diesem Grunde widmet ReRenaissance jährlich ein Konzert dem Musikschatz aus Petruccis Druckerei – in chronologischer Reihenfolge, um eine langfristige Perspektive auf diese bedeutende Entwicklung zu gewährleisten. Verglichen mit den Drucken, die vorausgingen und folgen sollten, ist Canti B verhältnismässig klein (nur 50 Stücke, wo Odhecaton A 100 umfasste), aber es enthält dennoch Musik von den bedeutendsten Komponisten der Zeit (Josquin, Compère, Obrecht, Brumel), gesammelt von einem Musiker am Schnittpunkt der europäischen Musikkultur.
Grace Newcombe – Gesang, Harfe, Clavisimbalum | Tabea Schwartz – Blockflöten, Viola d’arco | Claire Piganiol – Harfe, Portativ | Marc Lewon – Laute, Quinterne, Viola d’arco; Leitung
Konzertmitschnitt Februar 2022
Vlog Februar 2022 zu «Canti B» – Fortsetzung einer heimlichen Revolution
Claire Piganiol – Harfenistin, Blockflötistin und Musikhistorikerin
Thomas Christ (TC): Sie entdeckten in jungen Jahren, beim Studium der modernen, klassischen Harfe die Alte Musik und fanden so den Weg von Paris via Mailand und Toulouse nach Basel. Wie kam es zu jener Faszination für die Welt der Alten Musik?
Claire Piganiol (CP): Lieber Herr Christ, vielen Dank für das Interview! Ich habe alte Musik durch das Blockflötenspiel entdeckt und ich muss sagen, ich habe das Instrument damals aus praktischen Gründen gewählt (endlich einmal etwas Transportierbares!).
Doch die alte Musik und die historischen Harfen haben mich als Jugendliche schnell fasziniert — nicht nur das Repertoire, sondern auch wie man damit umgeht, der «Pioniergeist» und die Freiheit (Improvisation, Generalbassspiel …), welche diese Repertoires ermöglichen, sowie die vielfältigen Möglichkeiten für Ensemblespiel.
TC: Ihre beiden Instrumente, die Flöte und die Harfe haben bekanntlich eine mehrtausendjährige Geschichte, gehören so quasi zu den ersten Musikinstrumenten der Menschheit. Dennoch ist über Bauweise und Notation der alten, auch mittelalterlichen Instrumente wenig überliefert. Welches sind Ihre Quellen für den Nachbau der heutigen Mittelalter- oder Renaissanceharfen?
CP: Einerseits haben wir manche erhaltene Instrumente, zum Beispiel die «Wartburgharfe» (die Oswald von Wolkenstein – dem Sänger, Komponisten und Dichter um 1400 – gehört haben könnte) oder zwei sehr schöne Doppelharfen aus dem Italien der Spätrenaissance. Andererseits können wir uns an Ikonographie und Literatur wenden. So ist die Harfe, die ich im Februar-Konzert spiele, nach einem Gemälde von Hans Memling nachgebaut worden (dank einer ganz genauen Darstellungsästhetik erkennt man die Instrumente sehr gut).
TC: Noch schwieriger stelle ich mir die Rekonstruktion der Spieltechnik und auch der Saitenstimmung vor – da wird wahrscheinlich mit kenntnisreichem Einfühlungsvermögen viel improvisiert und neu erfunden? Oder auf welche historischen oder kunstgeschichtlichen Quellen greift man dafür zurück?
CP: Das stimmt! Für die Spieltechnik haben wir (wenig erstaunlich) aus dieser Zeit keine genauen Beschreibungen, es sind jedoch vereinzelt Hinweise, unter anderem in Traktaten und in der Literatur zu finden. Beispielsweise gibt uns ein Psalmkommentar aus dem 13. Jahrhundert ein paar Hinweise zur Spielweise der «Kithara», ein antiker Instrumentenname, der zu jener Zeit auch als «Harfe» gedeutet wurde. Für die Saitenstimmung wissen wir, dass Harfenisten ziemlich viel umgestimmt und «spezielle Stimmungen» benutzt haben. Die Harfenisten von heute müssen dann, genau wie die Harfenisten von damals, ihre eigene Lösungen finden!
TC: Ist die Harfe des Mittelalters und der Renaissance primär ein Begleitinstrument zum Gesang oder – wie die Flöte – ein Instrument mit einer eigenen Stimme, oder – mit anderen Worten – kann sie im Renaissancerepertoire mit der Laute verglichen werden?
CP: Die Harfe ist ein Instrument, das sich selbst genügt, und wir haben sowohl im Mittelalter als auch in der Renaissance Namen und Beschreibungen von virtuosen Harfenisten — dennoch war die Harfe auch als Begleitinstrument besonders gut geeignet. Im Gegensatz zur Laute gibt es aber relativ wenig Musikstücke, die explizit für Harfe komponiert bzw. gedruckt wurden. Auf der Harfe kann meist auch das Repertoire von Tasteninstrumenten und Lauten gespielt werden.
TC: Eine letzte Frage, die ich gerne allen Stars der Alten Musik stelle: Wir beobachten, übrigens erst seit einigen Jahrzehnten, dass sich die Barockmusik einer enormen Beliebtheit erfreut, während die reichen Renaissancemusikschätze noch weitgehend unentdeckt bleiben oder ein Nischendasein führen. Was denken Sie? Fehlt es an der Vermittlung, wird der Fanclub der Renaissancefreunde wachsen oder hat er in unserer lauten und schnelllebigen Zeit seine Grenzen?
CP: Ich hoffe sehr, dass der Fanclub der Renaissancefreunde wachsen wird! Man hört noch oft das Argument, Renaissancemusik sei «trocken», noch nicht «expressiv» (mit der Vorstellung im Hintergrund, dass die Musik des Frühbarock endlich expressiv war), vielleicht noch nicht virtuos genug. Das ist aber natürlich nicht so und ich habe den Eindruck, dass mehr und mehr Neugier und Interesse für diese Musik entsteht. Es ist unsere Aufgabe als Musiker, qualitativ hochwertige Programme zu präsentieren und sie für das Publikum verständlich zu machen, um zu versuchen, neue Leidenschaften für dieses Repertoire zu gewinnen.
Wie sein Odhecaton A musste auch Petruccis nächster Druck, Canti B, nur ein Jahr nach dessen Erstausgabe nachgedruckt werden. In beiden Fällen hatte Petrucci die Verkaufszahlen seines gewagten neuen Projekts offensichtlich unterschätzt. Canti B unterschied sich jedoch, da es neuere Musik enthielt und in vielerlei Hinsicht das Ende der festen Formen (formes fixes) im französischen Lied dokumentierte: Jahre, in denen die Rondeaux und Virelais derart monumental aufgebläht wurden, dass sie manchmal unter ihrem eigenen Gewicht zu kollabieren drohten.
Eine der führenden Persönlichkeiten dieser Zeit war Hayne van Ghizeghem: Bis vor kurzem gab es keine Belege dafür, dass er über 1476 hinaus gelebt hatte, aber vor fünf Jahren legte der französische Musikforscher David Fiala Beweise vor (bislang nur auf Facebook!), dass Ghizeghem 1493 noch lebte und Mitglied des französischen Königshauses war. Wir sehen jetzt also, dass er diese Phase gemeinsam mit Compère und Agricola dominierte.
Die andere Neuerung in den Canti B ist das Aufkommen eines viel einfacheren Stils, der die alten festen Formen ablöste: Lieder, die auf einstimmigen Melodien beruhen, in einem Genre, das wir Chanson rustique nennen. Glücklicherweise haben zwei Handschriften mit diesen Melodien aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts überlebt, die uns helfen können, die Entstehung der Kompositionen zu rekonstruieren. Ausserdem gibt es eine grosse Anzahl meist winziger, gedruckter Gedichtsammlungen, die demselben Repertoire gewidmet sind
Wie so oft sieht es so aus, als ob Josquin der Pionier dieses Genres war; aber wir haben im letzten Jahr so viel Josquin gehört, dass er in den nächsten Konzerten vielleicht vermieden wird. Das Wichtigste, was wir in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch die enorme Zunahme an Einspielungen feststellen konnten, ist, dass Josquin kein einsames Genie war. Jeder weiss seit Jahrhunderten, dass Leonardo und Raffael nicht die einzigen grossen Maler des frühen 16. Jahrhunderts waren; und wir wussten das, weil die Gemälde an den Wänden der Kunstgalerien der Welt zu sehen waren. Bei der Musik war das anders: Bis die Werke in anständigen Aufnahmen verfügbar wurden, wusste niemand, wie viele andere Komponisten aus Josquins Generation ebenso grossartig waren wie die grossen Maler dieser Zeit. Hoffen wir, dass wir im Jahr 2022 mehr von ihnen hören werden.
(Übersetzung: Marc Lewon)
1. Iste confessor – gregorianische Hymne (8. Jh.)
2. Virgo celesti (5vv*) – Loyset Compère (c1445–1518)
Canti B, Venedig (Ottaviano Petrucci) 1502 (Nr. 2), fol. 2v–3r
3. Dung aultre amer (4vv) – Marbrianus de Orto (c1460–1529)
Canti B (Nr. 24), fol. 27v–28r
4. De tous biens (3vv) – Johannes Ghiselin (tätig 1491–1507)
Canti B (Nr. 42), fol. 45v–46
5. Je cuide / De tous biens (4vv) – Jean Japart (tätig c1476–1481)
Canti B (Nr. 31), fol. 34v–35r
6. J’ay pris amours (3vv/4vv) – anonym / Johannes Martini (c1430/40–1497)
Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Rothschild 2973
(«Chansonnier Cordiforme», c1470), fol. 23v–24r / Florenz,
Biblioteca Nazionale Centrale. Ms Banco Rari 229, fol. 189v–190r
7. Jay pris amours (4vv) – Jacob Obrecht (1457/8–1505)
Canti B (Nr. 3), fol. 3v–7r
8. A qui direlle sa pencée – anonyme Monodie
Paris, Bibliothèque nationale, f. fr. 12744 (einstimmiges
Chansonnier, c1500), fol. 9r
9. A qui direlle sa pensee (4vv) – anonym
Canti B (Nr. 15), fol. 18v–19r
10. Se suis trop ionnette (4vv) – anonym
Canti B (Nr. 6), fol. 9v–10r
11. Hé Dieu, qui me confortera – anonym
Paris, Bibliothèque nationale, f. fr. 9346 («Le Chansonnier de
Bayeux»; einstimmiges Chansonnier, c1500), fol. 68v–69r
12. Vray dieu qui me confortera (4vv) – anonym
Canti B (Nr. 4), fol. 7v–8r
13. Je sui trop jeunette & Je suis d’Allemagne (3vv) – anonym
Paris 12744, fol. 17r & Dijon, Bibliothèque Municipale, MS 517
(«Chansonnier Pixérécourt»), fol. 114v–115r
14. A qui dirage mes pensees (3vv) – anonym
Canti B (Nr. 47), fol. 55v
15. Pour quoy fu fiat cette emprise (3vv) – anonym
Canti B (Nr. 43), fol. 46v–48r
16. En amours que cognoist (3vv) – Antoine Brumel (c1460–1512/13)
Canti B (Nr. 49), fol. 53v–54r
17. Reveillez vous, Piccars – anonyme Monodie
Paris 12744, fol. 95r
18. Revellies vous (4vv) – anonym
Canti B (Nr. 9), fol. 12v–13r
19. Avant avant (4vv) – anonym
Canti B (Nr. 38), fol. 41r
20. Si sumpsero (3vv) – Jacob Obrecht
Canti B (Nr. 40), fol. 42v–44r
21. Adieu fillette de regnon (3vv) – anonym
Canti B (Nr. 44), fol. 48v–49r
22. Le grant desir – anonyme Monodie
Paris 12744, fol. 93v
23. Le grant desir (3vv) – Loyset Compère
Canti B (Nr. 51), fol. 55v
*vv = ’voices’ = «Anzahl Stimmen»
Barfüsserkirche
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Liestal
Stadtkirche
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Basel, Martinskirche