ondon, 27. Juni 1521: Es ist der Vorabend zum 30. Geburtstag des englischen Königs Henry VIII. ReRenaissance präsentiert 500 Jahre später eine Momentaufnahme mit Musik aus Henrys Umfeld, die im Manuskript der British Library Add. 31922 überliefert ist, darunter auch Stücke, die dem «Kynge H. VIII» zugeschrieben werden. Es sind gewissermassen utopische Klänge, die entstanden, als Henry sich als gebildeter Humanist für die Künste interessierte, selbst musizierte und Diplomaten wie Thomas More sein Vertrauen schenkte. Das 1518 in Basel gedruckte Buch von More über die imaginäre Insel «Utopia» lässt im Dialog über eine ideale Gesellschaft noch nichts von der späteren Verwerfung mit Henry erahnen. So gibt dieses Konzert einen Einblick in die Klangwelt am königlichen Hofe noch vor dessen erster Ehekrise: Sechs Musikerinnen wünschen «Happy Birthday, Henry!»
Tessa Roos – Gesang | Emma-Lisa Roux – Laute, Gesang | Grace Newcombe – Gesang, Clavisimbalum | Claire Piganiol – Harfe, Blockflöte | Elizabeth Rumsey – Viola d’arco, Blockflöte | Tabea Schwartz – Blockflöte, Viola d’arco; Leitung
Tessa Roos – Sängerin und Renaissancespezialistin
Thomas Christ (TC): Wie kommt man von Südafrika in die Welt der Frühen Musik des Alten Kontinents? Wer hat ihre Stimme entdeckt?
Tessa Roos (TR): Ich fühle mich unglaublich glücklich, überhaupt die Wahl und die Gelegenheit gehabt zu haben, für das Studium der Frühen Musik nach Europa zu kommen. Als Mitglied einer musikalischen Familie, sang ich seit je her in vielen Chören und ich liebte diese Welt, die sich oft auch mit der Volksmusik verbunden zeigte. Und je kleiner die Chor-Ensembles wurden, desto mehr widmeten wir uns der Frühen, aber auch der zeitgenössischen Musik – und so nahm auch meine Begeisterung zu.
Nach einem Bachelor Abschluss in klassischer Musik an der Stellenbosch Universität in Südafrika und einem Lehrerdiplom der Cape Town University war mir klar, dass ich mich dem Studium der Alten Musik widmen wollte. Es existiert tatsächlich eine Musikszene für Frühe Musik in Südafrika, sie hat aber nicht die Grösse und das Angebot für einen vollen Studiengang – da war für mich klar, dass ich den Weg nach Europa suchen musste. So entdeckte ich einen Kurs von Evelyn Tubb und Anthony Rooley an der Schola Cantorum Basiliensis, der sich den Madrigalen des 16. und 17. Jahrhunderts widmete – da bewarb ich mich um eine Aufnahme. Ich wurde in ein Master Programm auch aufgenommen, wo ich mich vertieft mit der Musik der Frühbarock, Renaissance und des Mittelalters befassen konnte.
TC: Welches sind ihre liebsten Begleiter, die Lauten, die Gamben, die Flöten oder andere Sänger? Begleiten sie sich auch selbst instrumental?
TR: Sie sind alle toll, die Vorlieben orientieren sich eher an der begleitenden Person als am Instrument selbst. Mit jeder der genannten Optionen können unterschiedliche Gefühle betont werden und so ergeben sich mit den verschiedenen Begleitinstrumenten auch unterschiedliche künstlerische Möglichkeiten. Aber meine erste Wahl gilt klar der vokalen Mehrstimmigkeit: in einer Gruppe von Sängern fühle ich mich immer am wohlsten. In Basel sind wir natürlich von der enormen Fülle an professionellen Musikern verwöhnt. Von einer Laute begleitet zu werden ist eine wunderbare Erfahrung, ihre reichhaltige Zartheit geniesse ich sehr, sie hat in ihrer unverrückbaren Offenheit etwas unglaublich Ehrliches – da wird kein Ton versteckt. Auch mit den Flöten (Quer- und Blockflöten) ist ein Zusammenspiel anregend, da sie auch den Atem und dieselben Tonhöhen benutzen. Sie erlauben auf ihre Art eine gemeinsame Farbmischung. Aber überdies habe ich mich völlig in die Welt der frühen Streichinstrumente verliebt – die professionellen Gamben und Gambenconsorts in Basel bieten eine einmalige Begleitung und die Möglichkeit, mit ihnen zu singen ist einfach grossartig.
TC: In den letzten Jahren – und mit dem Corona Lock down noch vermehrt – hat die Möglichkeit der digitalen Performance und damit auch die Anonymisierung des Publikums enorm zugenommen. Empfinden Sie das als Fluch oder Segen, als gefährlichen Verlust eines Publikumsdialogs oder als bereichernde Erweiterung ihrer Kunst?
TR: Als Notmassnahme, also für den Umgang mit den Pandemiebestimmungen, ist die Möglichkeit eines Konzert-Streamings eine grossartige Alternative und wir freuen uns natürlich, dass wir immer noch spielen und ein Publikum erreichen können, wenn auch nicht am Ort des Geschehens. Auf längere Sicht kann ich mir aber nicht vorstellen, dass sich die Musiker mit einem Video-Dasein abfinden wollen und können, denn dies ist schlicht nicht die Form unserer Kunst, für die wir hier sind. Natürlich höre auch ich gerne Tonaufnahmen und ich bin sogar froh, dass sie existieren, aber der Vortrag unserer Kunst ist nicht primär dazu da, unmittelbar in einer Tonkonserve festgehalten zu werden.
Einerseits ist es schön, zu spielen und zu wissen, dass wir unsere Kunst mit den unterschiedlichsten Leuten teilen – und ebenso als Zuhörer, Konzerten beizuwohnen, welche sie ohne ein Streaming überhaupt nicht entdeckt hätten. Andererseits ist die musikalische Kommunikation ohne jenes menschliche Element eine befremdliche Sache und der Verlust des Dialogs mit den Zuhörern macht für unsere Kunst keinen Sinn, jedenfalls nicht in der Szene der Frühen Musik. So glaube ich, dass Vortragende und Zuhörer letztlich in gleichem Masse die digitalen Konzerte nicht als valable Alternative sehen. In der Musik geht es um Kommunikation – wenn nun die Musiker so spielen sollen, als wäre ein Publikum präsent, das nicht wirklich da ist … dann kann das Ganze einen seltsamen, ja komischen Anstrich bekommen. Man kann ein Konzert aufnehmen, aber es muss ein Publikum präsent sein, wo wäre sonst der Adressat unserer Kunst?
TC: Vielleicht mehr als die Klassik erlaubt und spielt die Welt der Renaissance und des Barock mit Verzierungen oder gar kleinen Improvisationen, könnten Sie sich vorstellen, musikalische Cross Over-Projekte mitzugestalten oder haben Sie als Sängerin an Aufführungen der Neuen Musik oder des Jazz mitgemacht?
TR: Tatsächlich habe ich mich in Südafrika für einige Jahre mit dem Jazzgesang versucht und hätte auch in Cape Town beinahe statt klassischem Gesang Jazz studiert. Ich bin nicht sicher, ob ich den Begriff «Cross Over» benutzen würde, aber solche Formen der Zusammenarbeit finde ich wunderbar. Die Interaktion mit Musikern oder Künstlern, die in anderen Epochen zu Hause sind, kann äusserst inspirierend und bereichernd sein. Und überdies erreicht man mit solchen Kooperationen neue Zuhörerkreise, neue Aufführungsorte, man lernt neue Komponisten kennen und wird mit anderen Konzerttraditionen konfrontiert. Natürlich geniesse ich meine Spezialisierung in der Welt der Frühen Musik und ebenso, in einer Szene mit geneigter Zuhörerschaft aufzutreten, aber die Pflege der Verbindung und der Neugier anderer Kreise, ausserhalb unserer Welt ist ohne Zweifel erfrischend und lehrreich.
TC: Natürlich kommt mein Interesse für Ihre vielseitigen Interessen nicht von ungefähr, denn auf einer Website lese ich: «Tessa is working towards becoming a Wine Master.» Abgesehen von den Parallelen der edlen Musik zum edlen Wein könnte sich hier der Kreis zu Ihrer südafrikanischen Herkunft wieder schliessen. Oder liege ich da mit meinen Konklusionen falsch?
TR: Nein, Sie haben recht. Aber seit ich in die Basler Musikwelt eingetaucht bin, habe ich leider nicht mehr viel Zeit für dieses «heimatliche» Hobby, aber ich hoffe sehr, die Tätigkeit bald wieder aufzugreifen! Einige meiner Familienmitglieder besitzen Weingüter – wenn man in den Rebbergen von Stellenbosch in Südafrika aufgewachsen ist, ist es undenkbar die Weinkultur und die dazugehörende Szene einfach zu ignorieren. Im Idealfall verbinde ich meine Weinkenntnisse eines Tages mit meiner beruflichen Routine, aber bis es so weit ist, lerne ich im Stillen weiter.
Fast ein Drittel der 109 Stücke in der Handschrift der British Library, Add. MS 31922, sind entweder mit «The Kyng . H . viij» oder mit «The Kynge . H . viij» überschrieben. Auch wenn er in drei Fällen nur eine vierte Stimme zu bestehenden Liedern hinzugefügt zu haben scheint, scheinen sich die Experten einig zu sein, dass die restlichen Stücke alle von ihm stammen. Ausserdem ist eine umfangreiche und ziemlich komplexe Motette mit dem Incipit Quam pulchra es überliefert, die ihm im Kollektaneenbuch des elisabethanischen Sängers John Baldwyn zugeschrieben wird, und ein Chronist dieser Zeit berichtet, dass er «zwei schöne Messen, jede von ihnen fünfstimmig, komponierte, die oft in seiner Kapelle und danach an verschiedenen anderen Orten gesungen wurden».
Sicherlich sind Henrys Kompositionen von unterschiedlicher Qualität, aber ich habe noch nie so viele von ihnen in einem einzigen Konzert (oder gar einer Aufnahme) gehört, wie sie hier angeboten werden; es wird also eine einmalige Gelegenheit, die man nicht verpassen sollte.
Dieselbe Handschrift enthält auch Werke von Komponisten seiner königlichen Kapelle, insbesondere des wunderbaren William Cornysh. Und – und das ist ganz aussergewöhnlich – sie enthält Werke kontinentaleuropäischer Komponisten, die dort allesamt anonym stehen. Darunter befindet sich auch La my, das Stück, das Henricus Isaac in nur zwei Tagen schrieb, als er 1502 den Hof von Ferrara besuchte. Und, für mich am interessantesten, ist die Vertonung von Fors seulement, die sonst nur aus einem Manuskript der Pepys Library mit einer Zuschreibung an Antoine de Fevin bekannt war. Neuerdings wurde eine Handschrift entdeckt, in der das Stück Robert de Fevin zugeschrieben ist. Der Knüller ist jedoch das anonymes Aufscheinen dieses Stücks in der gedruckten Sammlung der Trium vocum carmina (Nürnberg, 1538), dem ein handschriftlicher Kommentator den Namen «Josquin» hinzufügte. Dieser Annotator wurde kürzlich als Senfls langjähriger Kollege Lucas Wagenrieder identifiziert. Und in dieser Abschrift nannte er Komponisten für 33 der 100 Stücke in der Sammlung: und nur für
Fors seulement gibt es eine plausible, konkurrierende Zuschreibung an anderer Stelle. Das heisst, es gäbe sehr gute Argumente für die Annahme, dass er Recht hatte und das Stück wirklich von Josquin des Prez ist. Und das Josquin-Jahr ist sicherlich ein guter Anlass,
einige unserer alten Annahmen darüber zu überdenken, was er komponiert haben könnte und was nicht.
(Übersetzung: Marc Lewon)
1. Pastyme with good companye – Henry VIII (1491–1547)
London, British Library Add. MS 31922, fol. 14v–15r
2. Withowt dyscord – Henry VIII
MS 31922, fol. 68v–69r
3. La my – [Henricus Isaac (c1450–1517)]
MS 31922, fol. 7v–9v
4. A Robyn – William Cornish (c1465–1523)
MS 31922, fol. 53v–54r
5. My thought oppressed – Anonym
MS 31922, fol. 116v–120r
6. Pastyme with good companye – Henry VIII
MS 31922, fol. 14v–15
7. In May that lusty seson – Farthing [Thomas Farthing ( † 1520 oder 1521)]
MS 31922, fol. 26r
8. Fa la sol – [William Cornish]
MS 31922, fol. 9v–14r
9. Grene growth the holy – Henry VIII
MS 31922, fol. 37v–38r
10. Pastyme with good companye – Henry VIII
MS 31922, fol. 14v–15r
11. Fors solemant – [Josquin des Prez (c1450/55–1521)]
MS 31922, fol. 104v–105r
12. Wherto shuld I expresse – Henry VIII
MS 31922, fol. 51v–52r
13. If love now reigned – Henry VIII
MS 31922, fol. 48v–49r und 52v–53r
14. Taunder naken – Henry VIII
MS 31922, 82v–84r
15. Though some sayth – Anonym MS
31922, fol. 71v–73r
16. Belle sur tautes: Tota pulcra – [Alexander Agricola (1445–1506)]
MS 31922, fol. 99v–100r
17. [Consort VIII] – Henry VIII
MS 319222, fol. 64v–65r
18. Madame d’amours – Anonym
MS 31922, fol. 73v–74r
19. Farewel my joy – Cooper [Robert Cooper (1474–1540)]
MS 31922, fol. 66v–68r
20. Helas Madam – Henry VIII MS 31922, fol. 18v–19r
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