Cantate!

Orlando di Lasso – Zum Zuhören und Mitsingen
So 27.12.20

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

E

in Gesangssextett und ein Organo di legno zelebrieren weihnächtliche Musik des 16. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht das Officium natalis Christi des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso. Das Programm wird um adventliche Motetten seiner Zeitgenossen Palestrina, Vittoria u.a. ergänzt. Lassos Officium natalis Christi war ursprünglich in einem einzigen grossen Chorbuch notiert, aus dem alle Sänger gemeinsam lasen. Am 26. und 27. Dezember soll es die einmalige Gelegenheit geben, die Musik wieder in dieser Aufführungsart zu erleben. Da es derzeit nicht möglich ist, singend dicht um ein Chorbuch herum zu stehen, wird dieses auf eine grosse Leinwand projiziert, sodass es mit genügend Abstand lesbar bleibt. Das Publikum, sei es in der Barfüsserkirche oder zu Hause am Livestream, kommt in den Genuss, alle Stimmen aus dem Chorbuch nicht nur zu hören, sondern auch in der schönen historischen Notation zu sehen!

Ivo Haun – Altus, Tenor; Leitung | Doron Schleifer – Cantus, Altus, Sextus | Charlotte  Nachtsheim – Cantus | Matthieu Romanens – Tenor, Quintus | Rui Stähelin – Tenor, Quintus, Bassus | Carlos Federico Sepúlveda – Bassus | Aki Noda – Organo di legno | Elizabeth Rumsey – Organisation | Oren Kirschenbaum – Livestream

WWMJ89 Portrait of the composer Roland de Lassus (1532-1594). Private Collection.

Video

Officium natalis Christi (Communio) – Orlando di Lasso

Officium natalis Christi (Communio) – Orlando di Lasso aus Cantate!

27.12. 2020 Basel, Barfüsserkirche

Interview

Ivo Haun – Renaissancetenor und Lautenist

Thomas Christ (TC): Grosse Sänger aus Brasilien sind uns aus der Musikwelt bekannt, aber wir wissen wenig über die Szene der Frühen Musik in Südamerika. Wie hast du dort den Weg zur Musik der Renaissance und des Barock gefunden?

Ivo Haun (IH): Mein Weg zur Alten Musik war kein direkter. Ich habe mein Studium zunächst an der Universität mit der klassischen Gitarre angefangen und mit dem Singen erst zwei Jahre später begonnen; zuerst als Nebenfach, doch allmählich spielte der Gesang in meinem Leben eine immer grössere Rolle.

Meine damalige Lehrerin fand, dass meine Stimme für die Barockmusik sehr geeignet war und so begann ich, mich mehr mit diesem Repertoire zu beschäftigen. Gleichzeitig sang ich auch in einem Chor und allmählich hat der Gesang die Gitarre ersetzt. Ich hatte nicht nur mehr Freude am Singen, sondern sah auch bessere Perspektiven für meine Karriere.

TC: Ist die Schola Cantorum Basiliensis in deinem Herkunftsland bekannt? Wie hast du den Weg nach Basel gefunden?

IH: In Brasilien gibt es einige Alte-Musik Festspiele und viele Lehrer, die beispielsweise in Basel oder Den Haag studiert haben. In diesem kleinen Umfeld ist die Schola natürlich sehr berühmt. Als ich 2009 nach São Paulo umzog, um im Chor des São Paulo Symphonieorchesters zu singen, lernte ich Marília Vargas kennen, eine Sopranistin, die an der Schola studiert hatte. Sie wurde meine Gesangslehrerin und bald war uns klar, dass ein Studium in Basel eine sehr gute Idee wäre.

TC: Du bist seit einigen Jahren mit der Musik des Frühbarock und auch mit der Barockoper verbunden und bist auch schon in prominenten Formationen und Ensembles aufgetreten, doch die Welt des Barock unterscheidet sich stark von der virtuosen Gesangskunst der Renaissance. Woher kommt deine Liebe zur oder Vorliebe für Musik des Mittelalters und der Renaissance?

IH: Interessanterweise habe ich früher in Brasilien sehr wenig Kontakt mit der Musik vor 1600 gehabt. Es war erst während meines Studiums in Basel, dass ich eine Faszination für die frühere Musik entdeckt habe. Einerseits fasziniert mich die Tatsache, dass diese Musik grosse intellektuelle Herausforderungen von den Interpreten verlangt und gleichzeitig hoch raffinierte Ausdrucksmittel verwendet, um die Emotionen der Zuhörer zu berühren. Ich finde die Tatsache besonders spannend, dass die Musik der Renaissance im Musik-Business noch nicht so etabliert ist und deshalb mehr Platz für (Wieder-)Entdeckungen bietet. Beispielsweise die Improvisationspraxis, welche normalerweise nicht mit «klassischer» Musik in Verbindung gebracht wird, ist ein wichtiger, jedoch wenig praktizierter Aspekt.

TC: Im Gegensatz zum instrumentalen Vortrag ist der Gesang und insbesondere der Sprechgesang eng mit der Körpersprache, mit einer unterstützenden Gestik verbunden. War Rhetorik und auch die Schauspieltechnik Teil deiner Ausbildung?

IH: Ja, ich habe während meines Studiums und auch danach die Gelegenheit gehabt, ein bisschen über die historische Schauspieltechnik zu lernen und versuche, so oft wie möglich meine Darstellung oder mein Auftreten als Musiker um diese Kenntnisse zu bereichern. Das Ziel jeder rhetorisch geprägten künstlerischen Aufführung ist, zu berühren, zu lehren und zu unterhalten. Damit der Inhalt unserer Darbietung seine volle Wirkung auf die Zuhörer*innen entfalten kann, spielt die körperliche Gestaltung eine entscheidende Rolle.

TC: Für den Musiklaien sind die Notenquellen der Frühen Musik wenig ergiebig und wahrscheinlich auch für den Insider nur mit viel Improvisationspraxis umsetzbar. Kannst du uns zur Improvisationstechnik, die dennoch dem Original treu zu bleiben versucht, etwas erzählen?

IH: Ich finde, dass das einer der faszinierendsten Aspekte der Renaissance-Musik ist. Anders als bei der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, war es nicht die Aufgabe eines Komponisten der Renaissance, alle Aspekte der musikalischen Aufführung genau aufzuschreiben. Die notierte Musik dieser Zeit ist eher wie die Spitze eines Eisbergs zu verstehen (wie der Musikwissenschaftler Nino Pirrota vor einigen Jahrzehnten geschrieben hat). Die Musik, die tatsächlich produziert oder aufgeführt wird, verlangt von den Interpreten eine hochvirtuose Verzierungskunst und gleichzeitig auch kompositorische Fähigkeiten. Anders gesagt, die notierte Musik ist als Skizze zu verstehen, die der Musiker anreichern muss oder sogar weitere Stimmen hinzufügen soll, wie etwa in denn gregorianischen Gesängen (und anderen weltlichen Gattungen). Dies nennen wir heute Contrapunto alla Mente. «Dem Original treu zu bleiben» hatte damals somit eine ganz andere Bedeutung.

TC: Du hast deine Gitarre aus Brasilien mitgebracht – begleitest du dich heute nur noch mit der Renaissancelaute?

IH: Ja, nachdem der Gesang vor vielen Jahren den Platz der Gitarre in meinem Leben eingenommen hat, habe ich mit der Renaissancelaute eine perfekte Begleitung gefunden. In den kommenden Jahren plane ich, öfter mit der Laute aufzutreten und das Publikum von ReRenaissance wird mich im September 2021 auch als Lautenisten erleben dürfen.

TC: Eine letzte Frage, die ich den Kennern der Mittelalter- und Renaissance-Musik gerne stelle: Während die Barockmusik in den letzten Jahrzehnten ein breites Publikum gefunden hat, bedienen die Kompositionen der Renaissance immer noch einen Nischenmarkt. Hat sich daran – wie aktuell in Basel – bereits etwas geändert, oder wird sich daran etwas ändern?

IH: Diese Entwicklung habe ich in meinen zehn Jahren in Basel bereits erlebt (an mir selbst und gleichzeitig in meinem Umfeld). In den letzten Jahren haben mehrere Studenten der Schola ein Interesse für die Renaissancemusik entdeckt und Lehrer wie Anne Smith und Federico Sepúlveda haben sehr wichtige Impulse in diese Richtung gegeben. Es ist ein langsamer Prozess, aber Resultate können wir schon jetzt sehen.

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Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Cantate!», Dez 2020

45 Jahre lang habe ich Weihnachten immer in Manchester gefeiert; das Coronavirus aber macht eine Reise dorthin für uns unmöglich. Andererseits bleibt uns dadurch die erbärmliche viktorianische Musik erspart, die die Briten für ihre Weihnachtsfeiern zu bevorzugen scheinen. Stattdessen dürfen wir Adventsmusik von Lassus, Palestrina und anderen Komponisten des späten 16. Jahrhunderts hören. Das kommt besser hin.

Und was es noch spannender macht: dass wir mitsingen dürfen, wenn wir wollen. Ich werde auf jeden Fall dabei sein und an Basels Weihnachtsfeierlichkeiten teilnehmen. Während ich schreibe scheint die gesamte Welt die Wahl von Joe Biden zu feiern: mit einem Male sind alle Kanäle voller positiver Meldungen nach einem langen Jahr andauernder, düsterer Nachrichten. Ich erwarte voll und ganz, dass wir uns auf ein besseres Jahr 2021 freuen dürfen; und wie sollte man das besser begehen können als mit Liedern?

(Übersetzung: Marc Lewon)

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Programm

1. Toccata del quinto tono – Andrea Gabrieli (1532/33–1585)
(instrumental)

2. Officium natalis Christi (Introitus und Alleluia) – Orlando di Lasso (1530/32–1594)
Puer natus est nobis
Et Filius datus est nobis
Cantate Domino canticum novum
Quia mirabilia fecit
Gloria patri (Falsobordone von Giovanni Matteo Asola)
Puer natus est nobis
Et Filius datus est nobis (instr.)
Alleluia
Dies sanctificatus
Alleluia

3. Rex pacificus (Incipit)

4.  Psalm 109: Dixit Dominus (Falsobordone) – Giovanni Matteo Asola (1532?–1609)

5.  Rex pacificus – Giovanni Pierluigi da Palestrina (c1525–1594)

6. Toccata à 4 Voc. – Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621)
(instr.)

7.  Officium natalis Christi (Sequentia) – Orlando di Lasso
Natus ante saecula
Per quem fit machina
Choral
Per quem dies et horae labant
Quem angeli in arce poli
Hic corpus assumpserat fragile
Hoc praesens diecula loquitur
Nec nox vacat novi sideris luce
Nec gregum magistris
Gaude, Dei genetrix
Christe, Patris unice
Et quorum participem
Ut ipsos divinitatis tuae

8. Te maneat semper – Hermann Finck (1527–1558)

9. Magnificat primi toni (Primus versus) – Hans Leo Hassler (c1564–1612)

10.  O magnum mysterium – Tomás Luis de Victoria (c1548–1611)
(Cantusdiminutionen von Ivo Haun nach Giovanni B. Bovicelli)

11. Cantate Domino – Adam Gumpelzhaimer (1559–1625)

12. Intonatione sesto tono – Andrea Gabrieli
(instr.)

13. Officium natalis Christi (Communio) – Orlando di Lasso
Viderunt
Omnes fines terrae

 

Kursiv = gregorianischer Choral

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