Mit der Flöte singen!

La Fontegara von Ganassi
So 28.08.22

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Venedig, Braun&Hogenberg Peregrinatio In Terram Sanctam 1486.

«I

hr müsst wissen, dass alle Musikinstrumente […] im Vergleich mit der menschlichen Stimme einen geringeren Wert haben als diese. Eben darum bemühen wir uns, von ihr zu lernen und sie zu imitieren.» Dies ist der eröffnende Satz zum wichtigsten expliziten Blockflötenlehrbuch der Renaissance. Gedruckt in Venedig 1535 setzt die «Opera Intitulata Fontegara» bis heute Massstäbe für unser Musikverständnis und insbesondere das virtuose Spiel mit Diminutionen. Im Mittelpunkt dieses ersten grossen Werks Sylvestro Ganassis steht die Blockflöte, doch es enthält nicht etwa fertige Stücke, die man aufführen könnte. Es handelt sich vielmehr um eine stilisierte Momentaufnahme der Diminutionspraxis zu jener Zeit, die in diesem Konzert in eigenen Übertragungen und Improvisationen wiedererfahrbar werden soll. Entsprechend der klaren Anweisung aus dem ersten Kapitel der Fontegara kommt hierbei den Instrumenten vor allem die Aufgabe zu, «die menschliche Stimme mit all ihren Fähigkeiten nachzuahmen» und Ganassi ist überzeugt, dass der Blockflöte dieses Kunststück gelingen kann.

Andreas Böhlen – Blockflöte; Leitung | Tabea Schwartz – Blockflöte | Ivo Haun – Gesang | Félix Verry – Renaissancegeige | Claire Piganiol – Doppelharfe

Andreas Böhlen © Helen White

Video

Mit der Flöte singen! Ganassi’s Fontegara

Vlog August 2022 zu «Mit der Flöte singen!» – Sylvestro Ganassis Fontegara

Flöte und Violine / Ganassi

Ein kurze Handyvideo von Didier Samson als Teaser aus dem Konzert im September 2022. Andreas Böhlen und Felix Verry

Interview

Professor Andreas Böhlen – Blockflötist und Jazz-Saxophonist

Thomas Christ (TC): Sie haben in Ihren Wirkungsfeldern Grenzen der Frühen Musik gesprengt und sind mit oder über die Kunst der Improvisation auch im Modern Jazz zu Hause.  Gerne wüssten wir, wie das bei Ihnen alles begonnen hat – wie kamen Sie zur Blockflöte? Oder besser, warum blieben Sie bei der Blockflöte?

Andreas Böhlen (AB): Als Sechsjähriger wollte ich unbedingt Blockflöte spielen und beharrte darauf, bis ich ein Instrument bekam– und ich spiele seitdem bis heute mit grosser Freude! Es war von Beginn weg Teil von mir. Besonders die Kammermusik hatte es mir angetan. Saxophon wollte ich auch schon früh beginnen, mit 10 Jahren war es dann endlich möglich. Das bedeutete einen anderen Freundeskreis, andere Musik, andere Probenzeiten – und daher gab es in meiner Jugend und auch im Studium nahezu keine direkten Berührungspunkte. Beide Instrumente bieten mir nach wie vor tägliche Inspiration und wunderbare Erlebnisse und Entdeckungen.

TC: Sie gelten als Meister der Improvisation – diese erlernbare Fähigkeit gehörte in der Renaissance, aber auch in der Barockzeit zum Grundstudium aller Musiker. Warum denken Sie, hat diese Disziplin heute bei den Schola-Abgängern nicht den gleichen Attraktivitätsgrad und ist vielmehr zu einer Ausnahmebegabung mutiert?

AB: Als wahre Meister der Improvisation würde ich lieber andere Kolleg:innen bezeichnen, ich liebe aber die Improvisation und damit – trotz aller Vorbereitung – dem Moment ausgeliefert zu sein. Beim Improvisieren muss man anders hören und musizieren als beim Spielen aufgeschriebener Musik. Diese Herangehensweise, und damit auch das Resultat, faszinieren mich sehr.

Ob diese Disziplin grundsätzlich bei Studienabgängern nicht denselben Attraktivitätsgrad hat, kann ich (noch) nicht beurteilen. Ich sehe bei vielen doch ein grosses Interesse und recht hohes Niveau und bei den Blockflötenstudierenden auch das Bewusstsein, dass die Improvisation in verschiedenen Facetten ein wesentlicher Teil des heute erwarteten «Skillsets» ist.

TC: Sogenannte Cross-over-Projekte, bei welchen Künstler der Frühen Musik mit neuen Vermittlungsformen experimentieren und damit auch ein neues Publikum ansprechen, scheinen Ihnen schon lange ein grosses Anliegen zu sein – Sie wechseln dann allerdings von der Blockflöte zum Saxophon. Tauchen Sie da in eine neue, andere Welt ein oder wie würden Sie jenen improvisierenden Overlap der Alten Musik mit dem Modernen Jazz beschreiben?

AB: Ich würde meine Projekte selber nicht unbedingt als Cross-over bezeichnen, aber doch wage ich Gegenüberstellungen von Alter Musik und Jazz und auch Inspiration aus dem jeweils anderen «Genre». In meiner Erfahrung sind die Musiker der Alten Musik in ihrem Metier am stärksten und die Jazzmusiker in ihrem. Meist finde ich die Schärfung eines

bestimmten historischen Stils interessanter als die Vermischung von vielen Stilen. Für die Auseinandersetzung mit unterschiedlich Stilen finde ich eine Konfrontation verschiedener Genres oft spannend. Bildet dann Material aus dem Jazz beispielsweise den Ausgangspunkt für ein «historisches» Stück und umgekehrt, begibt man sich bisweilen auf wunderbar dünnes Eis.

TC: Eine historische Frage eines Flötenlaien: Ab wann beginnt man die Flöte «travers» zu spielen und was war der Hauptgrund für diese Entwicklung, die in der orchestralen Klassik zur Beinahe-Verdrängung der Blockflöte geführt hat? Wurde einfach alles immer lauter?

AB: Zu diesem Thema können sicher andere Personen eine wesentlich kompetentere Antwort geben als ich. Trotzdem ein Versuch einer Antwort: Ich möchte behaupten, dass es beide Flötentypen in aussereuropäischer Musik schon viel früher gab als in europäischer Musik. In letzterer existierten die Traversflöte und Blockflöte lange Zeit lang nebeneinander, wenn auch wahrscheinlich in der Renaissance nicht in gemeinsamen Consorts. Die Traversflöte stieg dann Ende des 17. Jahrhunderts von einem Militärinstrument zu einem Instrument des Adels auf. Hotteterre mit seinen Principes de la flute traversiere und die Instrumentenbaukunst der ganzen Familie Hotteterre haben hier sicherlich einen wesentlichen Teil zu beigetragen. Die Traversflöte kann sich vor allem wegen anderer Artikulationsmöglichkeiten auf eine andere Art als die Blockflöte mit der Gesangsstimme mischen. Auch hat sie mehr dynamische Möglichkeiten, die für grössere Aufführungsorte und Besetzungsstärken bedeutsam wurden.

Vielleicht kam dazu noch eine sehr sanfte Art der Tonanfänge und -enden in Mode, die die Traversflöte viel besser als die Blockflöte umsetzen kann? Und dann wurde ja zeitgleich auch noch die Barockoboe mit all ihren Möglichkeiten erfunden! Darüber hinaus wurde die im Vergleich zur Blockflöte sehr teure Traversflöte Anfang des 18. Jahrhunderts zu einem Statussymbol der Oberschicht.

Für mich übrigens alles keine Gründe, mich nicht der Blockflöte zu widmen!

TC: Und zum Schluss meine Lieblingsfrage zur Wiederentdeckung der Renaissance-Musik. Bekanntlich erfreut sich die Barockmusik seit einigen Jahrzehnten grosser Beliebtheit, sowohl am Radio wie auch in der Opernwelt – können Sie sich für die Musik der Renaissance eine ähnliche Entwicklung vorstellen oder bleibt sie mit ihrem vornehmlich intimen Charakter eher in einer Vermittlungsnische?

AB: Das liegt sicher zu einem grossen Teil an den einzelnen Künstler:innen und nicht zuletzt an ihrem Interesse, wie und wo sie ihre Musik aufführen möchten. Ich kann mir vorstellen, dass Renaissancemusik gerade wegen ihres damals oft exklusiven Charakters auch heute sehr attraktiv sein kann. Da bleibt aber viel zu tun für die Vermittlung, denn es ist meist vordergründig leise und unaufdringliche Musik. Bis man Schicht um Schicht dieser Musik dechiffriert, dauert es in der Regel lange. Aber genau dieser Prozess ist wunderbar, für Musiker:innen und Hörer:innen gleichermassen! Renaissancemusik ist nach meiner Erfahrung oft für einen bestimmten Ort komponiert und funktioniert in anderen Räumen durchaus sehr anders. Wenn man es schafft, eine bestimmte Entdeckerfreude des Publikums zu fördern, hat Renaissancemusik sehr viel zu bieten, denn sie braucht mehr Partizipation des Publikums als spätere Musik.

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Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Mit der Flöte singen!», Aug 2022

Ich habe Ganassis Fontegara nie wirklich begriffen. Als Schüler, der Verzierungen lernen wollte, griff ich viel lieber zu einem Kompendium wie Bovicellis viel spätere Regole (1594), bei dem die Variationen auf echten Kompositionen von Palestrina, Rore und anderen beruhten. Die konnte ich mit Freude durchspielen und stundenlang üben. Im Gegensatz dazu bietet Ganassi nur verschiedene Möglichkeiten, Kadenzen zu verzieren, von denen einige so stumpfsinnig und andere so komplex sind, dass ich mir nicht die Mühe machen wollte, herauszufinden, wie sie genau funktionieren sollten, obwohl ich zur gleichen Zeit wirklich hart daran arbeitete, die etwas komplizierteren Rhythmen von Stockhausens ersten vier Klavierstücken zu verstehen. Ich konnte einfach den Sinn nicht durchschauen. Das erklärt vielleicht, warum ich nie ein virtuoser Blockflötist wurde. In diesem Konzert können wir Blockflötist:innen hören, die offensichtlich den Sinn durchschaut haben; und ich freue mich sehr darauf, sie zu hören.

Es gab noch andere irritierende Details bei Ganassi. Nirgendwo im ganzen Buch gibt es ein Vorzeichen. Irgendwie trug das zu meinem Eindruck der Stumpfsinnigkeit bei. Und seine angeblich ernsthaft gründliche Erörterung des Zungeneinsatzes hat mich umgehauen. Er beginnt mit der Feststellung, dass das Leben eines jeden Bläsers mit dem Einsatz Zunge beginnt und endet. Als ehemaliger Waldhornspieler wusste ich das nur zu gut. Aber dann zählt er vier verschiedene Arten des Zungeneinsatzes auf, dieweil mir seit langem bekannt war, dass mindestens zwanzig solcher Arten benötigt werden. Und das Schlimmste ist, dass er zu sagen scheint, dass eine Veränderung der Vokallaute den Klang beeinflussen kann. Das schien (und scheint mir immer noch) das reinste Guru-Gerede zu sein. Und wieder einmal freue ich mich darauf, dass jemand mir aufzeigen wird, wie unwissend ich war (und immer noch bin).

(Übersetzung: Marc Lewon)

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Programm

Programmbooklet August 2022

1. Qual dolcezza giamai – Adrian Willaert (1490–1562)
Madrigali a cinque voci, Venedig 1538, Nr.1, fol.3v 

2. Amor mi fa morire – Adrian Willaert
Il secondo libro de madrigali, Venedig 1534, Nr.1, fol.4r 

3. Ben chè’l misero cor – Philippe Verdelot (um 1482–c1530)
Il primo libro di madrigali di Verdelotto, Venedig 1537, Nr.12, fol.16r–17v 

4. Improvisierte Ricercata 

5. Vita de la mia vitaPhilippe Verdelot
Il primo libro di madrigali di Verdelotto, Venedig 1537, Nr.16, fol.23r–24r 

6. Douce Memoire – Jacques Buus (c1500–1565)
Il primo libro di Canzoni francese, Venedig 1543, fol.10v 

7. Improvisierte Ricercata

8. Pass’e mezo antico secondo, Nr.15, fol.13v – Antonio Gardane (1509–1569; Herausgeber)

9. Le forze d’hercole, Nr.7, fol.7v

10. Gamba Gagliarda, Nr.6, fol.6v
Intabolatura nova di varie sorte de balli da sonare, Venedig 1551 

11. Improvisationen über Pass’e mezo und Gamba Gagliarda 

12. Ricercar IV Giulio Segni da Modena (1498–1561)
Musica Nova accomodata per cantar et sonar sopra organi; et altri strumenti, composta per diversi eccellentissimi musici, Venedig 1540, fol.13v 

13. Ancor che col partire Cipriano de Rore (1515/16–1565)
Madrigali a quattro voci, Libro primo, Venedig 1547, Nr.28, fol.15v 

14. Improvisierte Ricercata 

15. Vecchie letrose – Adrian Willaert
Canzone Villanesche alla Napolitana, Venedig 1545, Nr.5, fol.3v 

16. Sempre mi ridesta – Adrian Willaert
Canzone Villanesche alla Napolitana, Venedig 1545, fol.1v 

Galerie

2024

April

Ad Narragoniam

Musik aus dem Narrenschiff
So 28.04.24 17:45 Intro 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Mai

Jouissance vous donneray

Ein Gemälde erwacht
So 26.05.24 18:15 Uhr

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

September

Die Bassanos

Hommage an die Blockflöte
So 29.09.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Oktober

Magnum opus musicum 1604

Nachruf auf Orlando di Lasso
So 27.10.24 18:15 Konzert

Martinskirche
Basel

November

Du Fay 550

Musik fürs ganze Leben
So 24.11.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Dezember

Nun singet

... und seid froh!
So 29.12.24 17:45 Mitsing-Workshop 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel