Singen mit Vicentinos Orgel

Ein Versuch, die Seele zu vermessen
So 29.01.23

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Arciorgano, hypothetische Rekonstruktion nach Nicola Vicentino (1511-1576/77) © Susanna Drescher 2016

Ein Versuch, die Seele zu vermessen

M

ikrotonale Musik wird nicht oft mit der Musik der Renaissance in Verbindung gebracht, aber Nicola Vicentino (1511-1575/6) war ein Pionier seiner Zeit und schuf nicht nur neue Arten von Musik, sondern auch die Instrumente, auf denen sie gespielt werden konnte. Sänger:innen können ihre Stimmung unbegrenzt anpassen, was bei Tasteninstrumenten nicht der Fall ist. Vicentino schuf ein Cembalo und eine Orgel mit 36 statt der üblichen 12 Töne pro Oktave, um subtilste Variationen der «Farbe» zu ermöglichen. Johannes Keller begleitet das Vokalensemble am vor kurzem rekonstruierten Arciorgano und am sogenannten Cimbalo cromatico. Zu hören ist Musik von Vicentino selbst und auch von Cipriano de Rore.

Johannes Keller – Arciorgano, Cimbalo cromatico; Leitung | Christina Boner – Sopran| Giovanna Baviera – Alt | Ivo Haun, Dan Dunkelblum – Tenor | Jan Kuhar – Bass

Einführung mit Prof. Dr. Martin Kirnbauer um 17:45 Uhr

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Vicentino-Medaille (c1555) von Alessandro Vittoria, Venedig

Interview

2301_Interview Johannes Keller

Thomas Christ: Lieber Johannes, es ist uns eine Ehre und eine Freude unser erstes Interview im Neuen Jahr mit einem Dozenten der Intonation zu führen und uns mit einem Kenner der Materie auf dieses Thema einzustimmen.  Welche Wege und Umwege führten Sie zur Frühen Musik?

Johannes Keller: Die Alte Musik war schon immer gewissermassen meine Wahlheimat, ich habe laut Berichten meiner Eltern schon im Kindergarten den Wunsch geäussert, Cembalo zu lernen. Was mich dazu veranlasste, kann ich nicht mehr rekonstruieren.

Mit meinem Studium an der Schola Cantorum wurde meine Affinität zur Musik des 17. und 18. Jahrhunderts dann zum Beruf. Die Musik des 16. Jahrhunderts entdeckte ich für mich tatsächlich erst nach dem Studium – über den Weg des Arciorgano und Nicola Vicentino, der ja in diesem Konzertprogramm gewissermassen Protagonist ist.

TC: Als Schweizer Dozent an der Schola sind Sie schon beinahe eine Ausnahme. Beflügelt die Internationalität der Musikhochschule Ihre Arbeit oder bleiben Sprachbarrieren an der «ETH von Basel» ein Thema?

JK: Es ist auf jeden Fall eine unersetzbare Bereicherung, so viele Menschen aus verschiedenen Regionen, mit ihren eigenen Mentalitäten und Ausdrucksweisen so unmittelbar kennenzulernen. Das habe ich vor allem als Student sehr stark erlebt. Verständigungsschwierigkeiten gehören zur Tagesordnung, aber dafür findet man mit wachem Geist und offenem Herzen immer Lösungen. Man lernt, sich auch jenseits einer Meisterschaft der Sprache differenziert auszudrücken.

TC: Sie haben sich mit dem Forschungsprojekt «Studio 31» und insbesondere mit der mikrotonalen Musik der Renaissance einen Namen gemacht. Können Sie unseren Konzertbesucher:innen kurz erklären, was unter einer enharmonischen Stimmung bzw. einem enharmonischen Instrument zu verstehen ist?

JK: Das ist keine einfache Frage! Sie zu beantworten, ohne sich in technischen Details zu verlieren, ist eine echte Herausforderung. Ein Versuch: Rund um Nicola Vicentino (Italien im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts) hatte sich gerade eine «moderne Musik» etabliert, verschiedene Neuerungen unterschieden sie von der altmodischen Art, Musik zu schreiben. Grenzen wurden ausgelotet, es wurde viel experimentiert. Vicentino beobachtete aber, dass ein bestimmtes Element in der modernen Musik unangetastet blieb: die Gamut. Das ist eine Art universelle Tonleiter, innerhalb derer sich die Intervalle aller Melodien und aller Zusammenklänge abzuspielen hatten.

Vicentino fand einen Weg, diese Gamut signifikant zu erweitern, indem er zahlreiche Zwischentöne einfügte. Dies tat er aber nicht willkürlich, sondern er zerlegte die Komponenten der normalen modernen Musik in ihre Einzelteile, betrachtete sie durch die Linse antiker Musiktheorie und fügte sie in viel komplexerer Art und Weise wieder zu einem Ganzen zusammen. Dabei folgte er dem Prinzip der drei antiken Tongeschlechter, dem «diatonischen», dem «chromatischen» und dem «enharmonischen». Letzteres erfordert die kleinsten und damit unüblichsten Tonschritte. Wenn man im Kontext von Vicentino also von «enharmonischer Musik» spricht, meint man damit eine Art von Mehrstimmigkeit, die mit ausserordentlich kleinen Intervallen operiert.

TC: Sie arbeiten auch mit zeitgenössischen Komponisten zusammen. Da stellt sich die Frage, ob sich aus der experimentier- und improvisationsfreudigen Welt der Frühen Musik einfachere Brücken in die Gegenwart schlagen lassen als etwa aus der Klassik oder Romantik?

JK: Brücken sind im Fall des 16.  Jahrhunderts, insbesondere für Nicola Vicentino und dieer zeitgenössischen Musik tatsächlich ganz natürlich zu schlagen. Das hat vielleicht damit zu tun, dass Tonhöhensysteme damals noch verhandelbar waren und nicht verbindlichen internationalen Konventionen folgten, wie es ab dem 18.  Jahrhundert zu beobachten ist. Fokussiert man sich jedoch auf die zahlreichen anderen Aspekte, die Musik ausmachen, würde man bestimmt auch in späteren Epochen fündig. Ich wäre vorsichtig, Ihre Frage allgemeingültig positiv zu beantworten.

TC: Zur Rekonstruktion der Orgel bzw. eines Cembalos mit 36 Tasten pro Oktave erlaube ich mir den Verweis auf das Programmheft unseres Vicentino Konzertes in der Barfüsserkirche in Basel. Vielmehr interessiert mich als letzte Frage ihre Einschätzung der neuen Attraktivität der Renaissancemusik. Erwacht sie gerade aus einem Dornröschenschlaf und erlebt bald ähnliche Höhenflüge wie die Barockmusik oder bleibt sie in ihrer Intimität weitgehend einem Nischenpublikum vorbehalten?

JK: Eine solche Prognose vermag ich nicht zu geben, ich bin nicht sicher, ob das überhaupt möglich ist. Aber ich beobachte, dass gewisse heutige Tendenzen sich in der Vergangenheit der westlichen Kultur in besonderer Dichte wiederfinden. Aus meiner Sicht besteht eine gewisse Resonanz zwischen der heute allerorts zu beobachtenden Steigerung des Bewusstseins für Diversität und Epochen, die von Umbruch mehr geprägt waren als von Standardisierung und Vereinheitlichung. Eine weitere Tendenz ist das steigende Bedürfnis nach einem Kontrapunkt zur naturwissenchaftlich-technologischen Perspektive. Auch das steht nach meinem Empfinden in Resonanz mit einer Gesellschaft, in der mehrere Perspektiven scheinbar selbstverständlich koexistieren konnten.

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Kolumne

Martin Kirnbauer

«Ich bin dabei …» – Singen mit Vicentinos Orgel Prof. Dr. Martin Kirnbauer

Dreimal war Kardinal Ippolito Este nahe an seinem Ziel, zum Papst gewählt zu werden – und dreimal scheiterte er.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre er erfolgreich gewesen … Unsere heutige Musik etwa würde sicher anders klingen, hatte er doch Don Nicola Vicentino in seinen Diensten, der neuartige und ganz unerhörte musikalische Ideen hatte – und diese auch in eine hörbare Praxis umsetzte. So liess er 1561 in Venedig das Arciorgano bauen, eine Orgel mit 36 Tonstufen in der Oktave, um damit die subtilen Feinheiten von verschiedenen Sprachen und damit Singweisen zu imitieren und jeweils mit Konsonanzen zu begleiten. Nachdem diese Orgel an der Schola Cantorum Basiliensis nachgebaut wurde, lassen sich Vicentinos Ideen überprüfen – doch hören Sie selbst!

Martin Kirnbauer

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Programm

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1. In quel ben nato aventuroso giorno – Nicola Vicentino (1510-1577)
Madrigali a cinque voci, Libro primo (Venedig 1546)
2. Solo e pensoso – Nicola Vicentino
I-Vnm, It IV 858
3. Occhi miei dolci – Nicola Vicentino
Madrigali a cinque voci, Libro quinto (Mailand 1572)
4. Se mai candide rose – Nicola Vicentino
Madrigali a cinque voci, Libro primo (Venedig 1546)
5. Se qual è ‘l mio dolore – Cipriano de Rore (1515/16-1565)
Madrigali a quattro voci (Venedig 1575)
6. L’aura che ‘l verde lauro – Nicola Vicentino
Madrigali a cinque voci, Libro quinto (Mailand 1572)
7. Amor io son sí lieto – Nicola Vicentino
Madrigali a cinque voci, Libro primo (Venedig 1546)
8. Schiet’arbuscel – Cipriano de Rore
Il secondo libro de’ madrigali a quattro voci (Venedig 1569)
9. Passa la nave mia (6-stimmig) – Nicola Vicentino
Mellange de chansons des vieux autheurs (Paris 1572)
Abbildung links: Erklärung der Griffweise von gleichklingenden Skalen auf dem Archicembalo,
fol. 139v aus «L’antica musica …», Rom 1555

Galerie

2024

April

Ad Narragoniam

Musik aus dem Narrenschiff
So 28.04.24 17:45 Intro 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Mai

Jouissance vous donneray

Ein Gemälde erwacht
So 26.05.24 18:15 Uhr

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Historisches Museum Basel

September

Die Bassanos

Hommage an die Blockflöte
So 29.09.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Oktober

Magnum opus musicum 1604

Nachruf auf Orlando di Lasso
So 27.10.24 18:15 Konzert

Martinskirche
Basel

November

Du Fay 550

Musik fürs ganze Leben
So 24.11.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Dezember

Nun singet

... und seid froh!
So 29.12.24 17:45 Mitsing-Workshop 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel