ie Freundschaft zwischen Kettenacker und dem Hause Amerbach stand im Mittelpunkt des Eröffnungskonzertes im Juni 2020. Gut ein Jahr später wird diese Spur ins musikalische Erbe Basels aufgenommen und weiterverfolgt. In Verbindung mit Kettenacker mag Bonifacius Amerbachs Musikaffinität no ch bu chstäblich in den Kinderschuhen gesteckt haben. Dieses Programm widmet sich seiner eigenen Sammlung, die ihn ins Erwachsensein begleitete. So zeichnete er für die Überlieferung eines umfangreichen Manuskripts mit Musik für Tasteninstrumente verantwortlich. Die Musik dieses Konzertes bietet einen Einblick in die internationale Klangwelt des Humanismus rund um Amerbachs Basler Tabulaturen für Clavicytherium, Renaissance-Cembalo und Orgel.
Corina Marti und Sofija Grgur – Clavicytherium, Renaissance-Cembalo und gotische Orgel | Coleitung: Tabea Schwartz – Gotische Orgel von Walter Chinaglia, Como 2012
Corina Marti – Spezialistin für die Musik des Mittelalters und frühe Tasteninstrumente
Thomas Christ (TC): Auf welchen Wegen wird man zur Spezialistin der frühen Musik, über die Musikgeschichte oder über die Neugier für unbekannte Instrumente?
Corina Marti (CM): Spezialistin wollte ich nie werden, sondern Musikerin, Künstlerin – Blockflöte und Cembalo wollte ich spielen, mein Leben lang. Es war einfach meine Neugierde, die mich vom 18. bis ins 11. Jahrhundert brachte, damit verbunden dann natürlich das Instrumentarium, und dann begann ich vor 16 Jahren, Mittelalter/Renaissance-Tasteninstrumente zu unterrichten.
Zwei Jahre zuvor fing ich schon an, hier in Basel an der Schola Blockflöte für Mittelalter und Renaissance zu unterrichten – da wird man schnell «erwachsen» und forscht und lernt und wird dann wohl auch zu einer Spezialistin.
TC: Die Musik der Renaissance und mehr noch jene des Mittelalters muss zur Wiederbelebung oft aus Fragmenten und minimal vorhandenen Bruchstücken zusammengesetzt und rekonstruiert werden – ist das bei den frühen Tasteninstrumenten nicht ähnlich? Können Sie uns etwas über die Vorläufer des Cembalos und ihrer Nachbildungen erzählen? Wenn Baupläne fehlen, welche Rolle spielt die Malerei des Spätmittelalters?
CM: Die Malerei spielt natürlich eine grosse Rolle, wobei man sich immer bewusst machen muss, ob es eine gute Darstellung des Instrumentes ist oder eher eine Fantasie. Einen Bauplan aus dem Jahre 1440 gibt es für das Clavisimbalum – aber auch dort muss man schauen und genau aufpassen, um zu verstehen, was Sinn macht und was nicht. Eine andere wichtige Rolle spielen die Beschreibungen dieser Instrumente – da gibt es zum Glück einiges. Für die Zeit der Renaissance haben wir dann zum Glück originale Instrumente, die uns überliefert sind, so z. B. auch das Clavicytherium aus dem späten 15. Jahrhundert, welches im August-Konzert erklingen wird.
TC: Unsere ReRenaissance Reihe hat sich insbesondere mit der englischen, französischen, italienischen und deutschen Renaissancemusik beschäftigt – Sie haben sich intensiv mit polnischen Kompositionen jener Zeit beschäftigt. Sind da signifikante Unterschiede zu erkennen oder gehört Polen in dieser Zeit musikalisch in den nordeuropäischen Kanon?
CM: Ich denke, es gibt immer einen speziellen «Geschmack» in der Musik, es hängt von den Komponisten ab, egal in welchem Jahrhundert. Es gibt z. B. kleine spezielle Kompositionstechniken und dann auch Arten und Weisen, wie etwas intabuliert wurde, die sich unterscheiden können und eventuell eine Idee davon geben können, was z. B. typisch italienisch ist.
Polen, ach ja, leider bin ich hier bei ReRen nicht für polnische Musik* angefragt worden – aber meine Duopartnerin hier für dieses Konzert Sofija Grgur und ich arbeiten schon an einem nächsten Programm, das uns eher wieder in den «Osten» bringt. Ich habe viel polnische Musik gespielt, dank meines Mannes Michal Gondko. Er leitet zusammen mit mir das Ensemble La Morra. Durch ihn und durch befreundete Musikwissenschaftler bin ich sehr vertraut geworden mit den polnischen Quellen, oder besser eigentlich mit den zentraleuropäischen – denn diese Musik ist eine europäische, nichts anderes. Wir finden, egal ob aus dem 14., 15. oder 16. Jahrhundert, in den polnischen/zentraleuropäischen Quellen die Musik aus Italien, Frankreich, Deutschland, usw. Genau was ich liebe, das gesamte Europa! Wunderbar. Einen typischen polnischen Stil gibt es nicht.
TC: Interpreten der Frühen Musik, ob Blockflöte oder Tasteninstrumente sind regelmässig Virtuosen der Improvisation. Könnten Sie sich vorstellen, sog. Cross-over Projekte mitzugestalten, also etwa Renaissancestücke und Renaissanceinstrumente in einer Jazzformation auftreten zu lassen? Oder sollte man solche Experimente unterlassen?
CM: Das muss jede/jeder für sich selbst entscheiden. Ich habe in einigen Produktionen mitgespielt, die irgendwelche «Mischungen» Crossover waren – wenn das Konzept gut ist und die Musik auch, warum nicht.
TC: Die letzte Frage zielt ein wenig auf das Publikum der Frühen Musik – die Barockmusik erlebt bekanntlich seit einigen (wenigen) Jahrzehnten einen erfreulichen Publikumsboom, insbesondere sind auch Barockopern in ganz Europa en vogue. Die reichen Schätze der Musik zwischen 1400 und 1600 schlummern aber noch weitgehend im Verborgenen. Was braucht es ihrer Ansicht nach zu einer professionellen Vermittlung dieser Frühen Musik?
CM: Auf mich und das Ensemble La Morra trifft dies nicht zu, wir spielen seit über 20 Jahren rund um den Globus – unsere Programme sind immer aus dem 14. oder 15. oder 16. Jahrhundert – wenn diese Musik nicht en vogue wäre, wären wir nicht so viel gereist und hätten nicht so oft gespielt, auch unsere zahlreichen preisgekrönten CDs beweisen das. Es schlummert noch viel Musik, die wieder gespielt werden sollte: ja, das stimmt, aber es schlummert genau soviel Musik noch aus dem 18. Jahrhundert.
Was meiner Meinung nach dem Business schadet, sind Leute, die denken, Mittelalter- und Renaissancemusik sei einfacher auszuführen, sei weniger virtuos. Da gibt es dann Konzerte die einfach technisch auf einem tiefen, unprofessionellem Niveau sind, wenn möglich noch mit Kostümen, so aus dem Dunstkreis der Mittelaltermärkte. DAS schadet unserer Branche und der Musik – da gehe ich auch lieber in eine Barockoper.
* Anmerkung der Redaktion: Ein für Januar 2021 geplantes Programm mit Musik von Mikołaj Gomółka für den polnischen Psalter wurde auf Juni 2022 verschoben.
Die Schweizer Bibliotheken sind besonders reich an Tastentabulaturen des 16. Jahrhunderts: von der umfangreichen Tabulatur des Fridolin Sicher in St. Gallen über die kleinere, aber erstaunlich nützliche Clemens Hör-Tabulatur in Zürich bis hin zu den verschiedenen Quellen in Basel. Im Laufe meiner Forschungen haben sie alle mir über die Jahre hinweg Überraschungen und Freuden beschert, obwohl die Tastenmusik des 16. Jahrhunderts nie direkt im Mittelpunkt meiner Studien stand. Aber die vielen Dimensionen der Musikalität, die diese Manuskripte belegen, sind erstaunlich; und natürlich begrüsse ich ein Konzert, das ausschliesslich der Aufführung dieser Arrangements gewidmet ist, überaus.
(Übersetzung: Marc Lewon)
1. Harmonia in sol – Hans Kotter (1485–1541)
Basel, Universitätsbibliothek, Ms. F IX 22
(«Tabulatur des Bonifacius Amerbach»), fol. 9r–10v
2. Nur nerrisch sinn ist nun in mir – Sixt Dietrich (1494–1548)
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 462
(«Liederbuch des Johannes Heer von Glarus»), S. 164–165
3. O dulcis Maria – Hans Kotter
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 55r–56r
4. Ami souffre que je vous aime – Pierre Moulu (c1484–1550)
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 78r–78v
5. Praeludium in la – Hans Kotter
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 56r–58r
6. In May that lusty seson – Hans Kotter
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 59v–60v
7. Spanieler Tanz – Johannes Weck (c1495–1536)
Basel, Universitätsbibliothek, Ms. F IX 58
(«Tabulatur des Hans Kotter»), fol. 1r–2r
8. Praeambulum super d – anonym
St. Gallen, Ms. 530
(«Tabulatur des Fridolin Sicher»), fol. 80r
9. Virgo prudentissima – [Josquin des Prez (c1450/55–1521)]
Tabulatur des Fridolin Sicher, fol. 80v–81r
10. Ein anderer Tanz – Johannes Weck
Tabulatur des Hans Kotter, fol. 3v–4r
11. J’ai mis mon coeur – anonym
Tabulatur des Hans Kotter, fol. 15r–15v
12. Hoppertanz – Johannes Weck
Tabulatur des Hans Kotter, fol. 2v–3r
13. Nach willen din – Paul Hofhaimer (1459–1537)
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 82v–83r
14. Tandernach uf dem Rhin lag – Paul Hofhaimer
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 24v–27v
15. Das lang’ Ave Maria – Josquin des Prez
Tabulatur des Fridolin Sicher, fol. 92v–93v
16. Elslin liebes Elselin – Ludwig Senfl (c1490–1543)
Basel, Universitätsbibliothek, Ms. F X 1–4
(«Liederbüchlein des Bonifacius Amerbach») fol. 16r
17. Lamorra – Heinrich Isaac (1450–1517)
Tabulatur des Fridolin Sicher, fol. 93v–94r
18. Adieu mes amours – Josquin des Prez
Tabulatur des Bonifacius Amerbach, fol. 40r–41v
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Historisches Museum Basel
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