nde des 15. Jahrhunderts gehörte Mailand zu den bemerkenswertesten Musikzentren in Europa. Im internationalen Umfeld der Sforza-Herzöge gedieh eine Hofkapelle mit italienischen, deutschen und vor allem franco-flämischen Sängern und Komponisten. Die Domkapelle wurde in dieser Zeit Franchinus Gaffurius anvertraut, einem massgeblichen Theoretiker und Maestro di cappella, dessen Todestag sich 2022 zum 500. Mal jährt. Er zeichnete sich verantwortlich für die Herstellung von vier grossen Manuskripten, den sogenannten «Libroni». In einem prestigeträchtigen Forschungsprojekt beleuchtete die Schola Cantorum Basiliensis die Libroni als einzige Quelle der Zeit für die polyphone geistliche Musik Mailands neu. Das Konzert fusst auf einer Kooperation zwischen der Schola Cantorum Basiliensis und ReRenaissance.
Musikalische Leitung: Federico Sepúlveda – Stimme | Catherine Motuz – Posaune | Ivo Haun – Stimme | Agnese Pavanello – Forschung
Studierende der Schola Cantorum Basiliensis:
Kimon Barakos, Silas Bischoff, Annelise Ellars, Amy Farnell, Robert Hernandez, Nathan Julius, Parvati Maeder, Julia Marty, Matthieu Romanens, Elizabeth Sommers, Caroline Sordia, Henry van Engen und Arthur Wilkens (Gesang, Instrumente); Clément Gester (Zink).
Ian Harrison (Pommer); ReRenaissance: Marc Lewon und Tabea Schwartz
Vlog Januar 2022 zu «Reopening‘ Gaffurius Libroni» – Motetten am Mailänder Dom
Aus dem Konzert Reopening Gaffurius’ Libroni – Motetten in Mailand in Barfüsserkirche 30. Januar 2022 Basel Historisches Museum Basel
Konzertclip Januar 2022 aus «Reopening Gaffurius‘ Libroni» – Motetten aus Mailand
Aus der Sequenz Ave virgo gloriosa, Heerenberg, Castle Huis Bergh, MS 34, fol. 135r–138r
Aus dem Konzert Reopening Gaffurius’ Libroni – Motetten in Mailand, 30. Januar 2022, Barfüsserkirche Historisches Museum Basel
Librone 3, 187v–189r
Aus dem Konzert Reopening Gaffurius’ Libroni – Motetten in Mailand, 30. Januar 2022, Barfüsserkirche Historisches Museum Basel
Gaspar van Weerbeke, Gaffurius Librone 1, fol. 115v–116r
Aus dem Konzert Reopening Gaffurius’ Libroni – Motetten in Mailand, 30. Januar 2022, Barfüsserkirche Historisches Museum Basel
Dr. Agnese Pavanello – Dozentin für Musikgeschichte an der Schola Cantorum Basiliensis
Thomas Christ (TC): Nach Ihrem Studium der Musikwissenschaften in Pavia führte Sie Ihr Weg trotz Ihrer Publikationen zu Corelli, Tartini, Locatelli und Bonporti nicht nach Rom oder Neapel, sondern nach Regensburg, Freiburg und Basel – können Sie uns das kurz erklären?
Agnese Pavanello (AP): Als ich in Regensburg ein Semester studierte, entschied ich, dass ich mich weiter im deutschsprachigen Raum ausbilden wollte. Ich war von der deutschen Universitätskultur fasziniert, von den fantastischen Bibliotheken angetan, die unkompliziert zugänglich waren, und ich fühlte mich bereichert von all den Impulsen, die ich als junge Italienerin im Ausland erhielt.
Von der Universität Freiburg im Br. kam ich mit einem Forschungsstipendium nach Basel. Ich wollte mich mit den Quellen Corellis, die am Musikwissenschaftlichen Institut gesammelt waren, näher beschäftigen. Am Basler Institut fand ich ein besonders fruchtbares Umfeld vor, um mich in der Musikwissenschaft weiterzuentwickeln, und ich entdeckte damals neu meine Leidenschaft zur alten Musik, bzw. zu weiteren historischen Bereichen auch dank meinen Besuchen an der Schola Cantorum Basiliensis (Konzerte und Veranstaltungen verschiedener Art). Ich liebte es, bis spät in der Nacht am Basler Musikwissenschaftlichen Institut zu arbeiten, damals war dessen Bibliothek für uns Studierende immer offen. Ein Traum für mich. Im Folgenden erhielt ich ein Stipendium für Basel und anschliessend arbeitete ich zwei Jahre am Institut als Hilfsassistentin. Als ich nach vielen Jahren musikwissenschaftlicher Tätigkeit in Österreich eine Forschungsstelle an der Schola Cantorum Basiliensis erhielt, hatte ich eindeutig das Gefühl, beruflich am richtigen Ort angekommen zu sein.
TC: In unserer ReRenaissance-Konzertreihe beginnen wir das Jahr mit einem Motettenzyklus und anderen Stücken aus den bekannten Mailänder Libroni. Sie haben an der SCB ein Forschungsprojekt zu diesen Libroni mit dem Titel «Polifonia Sforzesca» geleitet – was ist das Besondere an diesem Projekt? Inwiefern ist die diesjährige Aufführung eine Premiere?
AP: Das besondere an diesem Projekt war, dass wir eine Online-Plattform kreieren wollten, in welcher man die Mailänder Libroni, die zu den wichtigsten Musikhandschriften geistlicher Vokalpolyphonie der Renaissance zählen, digital verfügbar machen und sie unter neuen Gesichtspunkten erforschen kann. Wir planten von Anfang an, dass dieses Portal nicht nur einen Katalog und ein Inventar der Werke enthalten sollte (mit detaillierten Informationen, wie Konkordanzen, Bibliographie zu den einzelnen Werken, etc.) sondern auch kritische digitale Editionen aus den Libroni sowie gezielte Studien zu den Handschriften und dem enthaltenen Repertoire. Insbesondere hatten wir vor, das Repertoire der sogenannten «motetti missales», Motettenzyklen, die während des Gottesdienstes aufgeführt wurden, in neuen kritischen Editionen im Open Access zugänglich zu machen und dank neuer Forschung neu zu beleuchten. Diese Ziele haben wir alle erreicht. Insgesamt fast sieben Jahre hat unser internationales Forscherteam daran gearbeitet – zuerst nur an der Erforschung der Motettenzyklen, danach an der Erschliessung des musikalischen und kulturellen Kontextes des Mailänder Doms unter den Sforza-Herzögen. Mehrere Publikationen und Online-Ressourcen sind dadurch entstanden.
Von Anfang an hatten wir die Möglichkeit, mit Musikern der Schola Cantorum Basiliensis zu arbeiten und mit der von uns untersuchten Musik klanglich zu experimentieren. Das ReRenaissance-Konzert ist ein Resultat dieser Zusammenarbeit. Die Zusammensetzung des Programms ist eine Premiere – einzelne Motetten, Serien von Motetten (ein Zyklus und kleinere Motettenzyklen) und Ordinariums-Sätze werden kombiniert und evozieren somit eine Praxis, die für Mailand gut belegt ist. Das Besondere an diesem Konzert ist der improvisatorische Teil. Ausgehend von den Choralmelodien erproben die Sänger:innen und Musiker:innen verschiedene Improvisationstechniken. Dadurch wird auch demonstriert, wie eng die Beziehungen zwischen verschiedenen Gesangspraktiken (einstimmige und mehrstimmige Traditionen) im geistlichen Bereich waren. Zum Beispiel bei den Sequenzen (Gesänge mit gereimten und rhythmisch angeglichenen Versen): Auf die Melodien dieser einstimmigen Gesänge wurden im Mittelalter stets Stimmen dazu improvisiert! In diesem Konzert hören wir also improvisierte Mehrstimmigkeit – und das ist etwas, das man nicht so oft in Konzerten erleben kann.
TC: Bei musikgeschichtlichen Studien werden gerne und zu Recht historische Brücken zu Nachbardisziplinen gebaut, etwa zum Instrumentenbau, zur höfischen Kultur jener Region, zu Einflüssen aus anderen Ländern, aber auch zur Malerei zur Zeit der Libroni. Begrüssen Sie diese interdisziplinären, kunsthistorischen Kontakte oder sind sie in der Musikwissenschaft eher ein Nebenschauplatz?
AP: Der interdisziplinäre Dialog ist von wesentlicher Bedeutung in unserem Fach. Er gibt Zugang zu Kenntnissen, die sonst nicht zu erlangen wären und erweitert das Spektrum mit methodischen Ansätzen, was essenziell für die Forschung und ihre Umsetzung im praktischen Bereich ist. An der Schola Cantorum Basiliensis bemühen wir uns stets um interdisziplinären Austausch, da die Beschäftigung mit Alter Musik, dies unbedingt voraussetzt. Im Umgang mit Kirchenmusik der Renaissance ist es nötig, interdisziplinär zu arbeiten, auch um z. B. ihre theologische Dimension zu erfassen, die genauso wie musikpraktische Gegebenheiten ihre Form und Inhalte geprägt hat. Wenn z. B. bestimmte Stücke während der Liturgie gesungen wurden, ist es klar, dass man mit der Liturgie der Zeit vertraut sein sollte, auch nur in Bezug auf die Frage, ob die Funktion oder der Kontext der Aufführung formale und stilistische Aspekte der betreffenden Musik beeinflusst haben (beispielweise im Aufbau eines Stückes oder in der Verteilung von homophonen oder polyphonen Abschnitten). Die Liturgie des Mittelalters ist aber eine Disziplin für sich, die spezifische historische Forschungen voraussetzt. Uns Musikwissenschaftler:innen ist sehr wichtig, in diesem interdisziplinären Dialog heranzuwachsen, um neue Erkenntnisse und Interpretationsmöglichkeiten von Musikwerken zu erlangen.
TC: Wie muss man sich das Notenbild dieser polyphonen Kompositionen vorstellen, wie viele der Stimmen sind vollständig notiert, wie viel wird als «Variantenkenntnis» der Begleitstimmen vorausgesetzt oder erlernt?
AP: Die Werke, die im Konzert erklingen, sind vierstimmig notiert. Auf einer Doppelseite eines Chorbuchs stehen üblicherweise nur die Stimmen, die das kontrapunktische Gerüst ausmachen. Wir wissen nicht, wie viele Sänger genau eine Stimme ausführten, oder wann und wie Instrumente die Vokalstimmen verstärkten. Das hängt von der spezifischen Situation der Aufführung ab. Schon damals, Ende des 15. Jahrhunderts, wurden einzelne Stimmen für homophone Passagen gerne vielstimmiger aufgespalten – oder gelegentlich sogar in zwar Chöre aufgeteilt, um eine reichere harmonische Fülle zu erreichen. Auch in den Fällen, bei denen Listen der Sänger erhalten sind, können wir nur hypothetisch rekonstruieren, wie viele Musiker tatsächlich an einem musikalischen Ereignis teilnahmen und wie sie an einem speziellen Stück beteiligt waren. Deswegen ist es wichtig, immer wieder auch mit der Besetzung klanglich zu experimentieren (z. B. mit der räumlichen Aufstellung, der Verteilung von solistischen und chorischen Einsätzen, Klangfarbe und Ornamentierung usw.). Heutzutage können wir uns viel Freiheit im Umgang mit älterem Repertoire erlauben – wenn man jeweils bewusst mit dem spezifischen Repertoire umgeht. Bezüglich der einstimmigen musikalischen Überlieferung: Wie oben erwähnt, wissen wir, dass einstimmige Melodien nicht selten mehrstimmig aufgeführt wurden. Eine zweite Stimme war üblich bei einigen Gesängen wie z. B. den Sequenzen, aber es wurde auch mit mehreren Stimmen improvisiert. Also zusammengefasst: Das Notenbild erzählt uns nur einen Teil der Geschichte. Wir brauchen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Musik, um sie überzeugend wiederbeleben oder interpretieren zu können.
TC: Die Barockmusik und auch ihre historisch informierte Aufführungspraxis erfreuen sich seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit, jedes Opernhaus setzt heute mit zunehmendem Erfolg Barockopern auf sein Programm. Hat sich auch das Interesse für die Renaissancemusik gewandelt oder stehen wir da noch am Anfang einer Entdeckungsreise?
AP: Mir scheint das Interesse für die Renaissancemusik wesentlich grösser als noch vor 30 Jahren, aber wir haben es in der Tat mit einer Musik zu tun, die noch ein relativ kleines Publikum anspricht, weil sie den meisten unbekannt ist. Vielleicht stehen wir nicht ganz am Anfang einer Entdeckungsreise, doch ist das Potential dieser Musik noch lange nicht ausgeschöpft. Auch wenn wir in Basel eine durchaus aussergewöhnliche und privilegierte Situation erleben, da wir hier oft das Glück haben, ungehörte Musik aus Mittelalter und Renaissance in Konzerten zu geniessen, zeigt die ReRenaissance-Reihe deutlich, welchen immensen Reichtum an Werken das Renaissance-Zeitalter bietet. Diese Musik verdient, wieder gehört zu werden und dadurch aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Vielfalt und ihrer Ausdruckskraft ein neues Leben zu geniessen.
«Ich bin dabei … » von Martin Kirnbauer zu «Reopening Gaffurius’ Libroni», Jan 2022
Vor zwei Jahren, im Oktober 2019, als «Corona» noch entweder ein Bier oder ein Phänomen der musikalischen Notation war (je nach Interesse), durfte ich im Mailänder Dom eine beeindruckende Aufführung erleben: Im Schiff dieses riesigen Kirchenbaus lag auf einem speziellen Pult eines der grossformatigen Chorbücher (Libroni) aus dem Ende des 15.6nbsp;Jahrhunderts, die Francesco Gaffurio (1451–1522) für den Gebrauch im Dom hatte anfertigen lassen.
Sänger:innen und Instrumentalist:innen der Schola Cantorum Basiliensis versammelten sich vor dem Librone und musizierten daraus Motetten von Binchois, Busnoys, Josquin des Prez und natürlich Gaffurio, wie sie an der gleichen Stelle vor über 500 Jahren erklangen. Dieses besondere Setting führte mich in ein sehr spezielles Musikerlebnis: Ich wohnte nicht einem «Konzert» bei, sondern ich hörte diese Musik in angemessener Klanggestalt am «richtigen» Ort – und sie berührte mich dabei ungemein. Damit diese Aufführung möglich wurde, musste einiges an Vorarbeit geleistet werden. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt an der Schola Cantorum wurden die berühmten Libroni erforscht und ediert. Die Aufführung war sicher eines der Highlights dieses Projekts, materialisierte sich die Forschung an den (stummen) Quellen doch in wieder klingender Musik.
Nun kann man im Januarkonzert in Basel Musik aus den Mailändern Chorbüchern hören – in einem neuen Programm! (Wird es ohne die Präsenz der originalen Libroni und in dem etwas «bescheidener» dimensionierten Kirchenraum wohl wieder ein einmaliges Erlebnis werden?)
1. Sequenz Salve mater salvatoris – anonym
Heerenberg, Netherlands, Castle Huis Bergh, MS 34, fol. 71v–74v
2. Motettenzyklus Salve mater salvatoris – Franchinus Gaffurius (1451–1522)
Mailand, Archivio della Veneranda Fabbrica del Duomo, Librone 1, fol. 84v–93r
Salve mater salvatoris | Salve decus virginum| Tu thronus es Salomonis| Imperatrix gloriosa
3. Antiphon Ave regina caelorum – anonym
Kopenhagen, Det kongelige Bibliotek Slotsholmen, Gl. Kgl. S. 3449, 8o [14] XIV, fol. 113r–v
4. Ave regina caelorum – Loyset Compère? (c1445–1518)
Librone 1, fol. 150v–151r
5. Gloria – Credo breves – Loyset Compère
Librone 3, fol. 159v–162r Sequenz
6. Ave virgo gloriosa
Heerenberg, Castle Huis Bergh, MS 34, fol. 135r–138r
7. Sanctus – O sapientia – Loyset Compère?
Librone 2, fol. 35v–36r
8. Ave virgo gloriosa Maria mater gratiae – Loyset Compère
Librone 1, fol. 149v–150r; Librone 2, fol. 36v–37r
9. O genitrix gloriosa – Loyset Compère
Librone 3, fol. 51v–52r
10. Ave Maria gratia plena (2. Teil: Sancte Michael) – Loyset Compère
Librone 3, 187v–189r
11. Christi mater ave – Gaspar van Weerbeke (c1445 bis nach 1517)
Librone 1, fol. 114v–115r
12. Mater digna Dei – Gaspar van Weerbeke
Librone 1, fol. 115v–116r
13. Ave stella matutina – Gaspar van Weerbeke
Librone 1, fol. 116v–117r
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Haus zum Kirschgarten
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Basel, Martinskirche
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