Misura, Memoria …

Guglielmo Ebreo, 600 Jahre, das Erbe italienischer Tanzmeister
So 30.05.21

Barfüsserkiche
Historisches Museum Basel



«Misura, Memoria ...» - Guglielmo Ebreo, 600 Jahre, das Erbe italienischer Tanzmeister

V

or rund 600 Jahren kam Guglielmo Ebreo in Pesaro zur Welt. Neben seinem Meister Domenico da Piacenza gilt er heute als einer der wichtigsten Tanzmeister des 15. Jahrhunderts. Seine Tanzkultur versteht die sichtbare Bewegung des Körpers als Seelenspiegel. Zur Ausübung dieser Kunst braucht es «Misura», die Konkordanz von Musik und Bewegung, «Aiere», die Präsenz und Geschicklichkeit in der Ausführung, «Memoria», die aufmerksame Beachtung und Verinnerlichung der Abfolgen, und «Mayniera», das kunstvolle Ausschmücken der Schritte. Von den Tanzmusikern wurde erwartet, dass sie zu den Schritt- und Bewegungsfolgen aus einer schlichten vorgegebenen Grundmelodie ein Musikstück improvisieren, das die Tanzenden unterstützt und zugleich das Ohr erfreut.
Die Interpret*innen stützen sich auf die Quellen und Traktate dieser Zeit und schaffen stilsicher und teils improvisierend eine farbenreiche Neuinterpretation der Tänze und der Musik aus dem Zentrum der Renaissance um Venedig, Mailand und Pesaro. Drei Musiker*innen und drei Tänzer*innen gestalten ein Programm, das die innere Anmut einer ganzen Epoche reflektiert.

Martin Meier  und Christian Tanner – Tanz | Félix Verry – Fidel, Lira da bracchio | Silke Gwendolyn Schulze – Block-, Einhandflöten & Trommel/Schlagbordun, Douçaine | Marc Lewon – Laute, Quinterne, Cetra; Co-Leitung | Véronique Daniels – Tanz; Leitung

Video

Italian dancing master – A Foretaste

Italian dancing master – A Foretaste

Interview

Véronique Daniels – Renaissancetanz-Spezialistin

Thomas Christ (TC): Liebe Frau Daniels, Sie haben vor vielen Jahrzehnten an der Schola ein Blockflötenstudium abgeschlossen. Wie kam es damals zur Liebeserklärung an den Renaissancetanz?

Véronique Daniels (VD): Als ich 1975 anfing, in Strassburg Blockflöte und Alte Musik zu studieren, begann ich auch die traditionellen Tänze zu lernen. Ich besuchte viele Workshops und lernte von Tänzer*innen kennen, die neben dem traditionellen Repertoire insbesondere auch die französischen Tänze des 16. Jahrhunders und die englischen Countrydances unterrichteten.

Véronique Daniels

Instrumentale und vokale Tanzmusik aus dem 16. Jahrhundert ist uns überliefert und war mir als Blockflötistin auch bekannt; mich interessierte sodann, durch das Erlernen der Tänze auch die Musik für die Tänzer besser spielen zu können. Gleichzeitig half mir der Tanz, der Geschichte einer Epoche näherzukommen. So fing ich an, , den Tanztraktat von Thoinot Arbeau (1589), die Orchésographie, zu lesen und lernte, wie man sich beim Tanzen zu verhalten hat, wie ein Mann seine Dame zum Tanz einlädt, wie die Dame sich dem Mann gegenüber verhält und bei welcher Gelegenheit eine Pavane oder ein Branle getanzt wird.
Später habe ich mich für die italienischen Tänze der Renaissance interessiert, habe Tanztraktate gesucht, Mikrofilme zu früheren Quellen für die Schola bestellt und versucht vieles nachzulesen – doch ich konnte damals kein Italienisch und begann, gemeinsam mit einer italienischen Bekannten zu lernen und zu forschen. Wir fingen auf der ersten Seite des handgeschriebenen Traktats von Domenico da Piacenza an. Das war für beide eine enorme Herausforderung, denn die Texte zum Tanz werden da mit Zitaten von Aristoteles in einen philosophischen Kontext gesetzt. Spannend war es … aber das Studium brachte mich noch immer nicht zu einer praktischen Aufführungsanleitung der Tänze – und ich wollte tanzen! So habe ich nach weiterer Hilfe gesucht. Es gab kaum jemanden, der Erfahrung mit diesen historischen Tänzen hatte. Doch als ich von einem Kurs am Conservatoire Populaire de Genève mit Andrea Francalanci hörte, begann für mich eine wunderschöne Reise. Andrea hatte in Italien mit Barbara Sparti gearbeitet, er las und erklärte die originalen Tanzquellen und verfügte über gute musikalische Kenntnisse, wenngleich er kein Spezialist der Alten Musik war. Wir fingen an, uns regelmässig auszutauschen, mein Italienisch wurde besser und ich konnte die Texte zu den Tänzen immer besser lesen und verstehen und mir klare Vorstellungen zu einigen Choreographien machen. Da ich ein grosses Interesse für die Notation der Musik hatte, konnte ich nun nach musikalischen Lösungen für die Tänze suchen. Es war damals äusserst schwierig, an Arbeitsmaterial heranzukommen. Ich erinnere mich an den Tag, wo Andrea mit dem Auto aus Florenz nach Basel zu Besuch kam. Im Kofferraum waren zwei Kisten mit Büchern, Faksimiles (rückvergrösserte Mikrofilme) und Fachartikeln, die damals schwer zu finden waren. Ich durfte mir alles anschauen und fotokopieren. Es war ein Fest!
Später reiste ich nach Urbino, um einen Kurs bei Andrea und Maestra Barabra Sparti, der grande Dame des italienischen Tanzes zu besuchen. Und da war ich nun in dieser magischen Stadt, sozusagen als Gast bei Federico da Montefeltro. Die Beschreibungen von Castiglione in Il Cortegiano wurden lebendig und wir tanzten im Palazzo Ducale im grossem Saal, im Piano Nobile im ersten Stock, der so gebaut ist, dass das ganze Gebäude mitschwingt, wenn dort gelaufen, oder getanzt wird.

Die Rolle des Tanzes als Teil der Gesellschaft zu verstehen, war mir von Anfang an ein wichtiges Anliegen. Der Tanz war auch Teil der Ausbildung des Adels, er spiegelte das Profil einer Gesellschaft, zeigte die Rolle der Frau und wie eine soziale Gemeinschaft funktionierte. So sind zum Beispiel in Frankreich und im Burgund die bekannten Basses danses des späten 15. Jahrhunderts immer Paartänze: Ein Mann lädt eine Frau ein und das Paar tanzt alleine, hin und her, immer parallel. Jede Basse danse beginnt und endet mit einer Révérence (Verneigung), der Reiz liegt in der Mémorisation (dem Auswendiglernen) der unregelmässigen Schrittfolgen. Falls der König im Saal präsent ist, schaut er eher zu und tanzt nicht mit. In Italien wiederum darf eine Frau einen Mann einladen, sie darf einen Ballo anführen, die Tänze sind nicht nur Paartänze, viele sind für drei Tänzer*innen (2 Frauen und einen Mann, oder umgekehrt) oder sogar für mehr, manchmal bis zur 10 Tanzenden, gedacht.  Beim Tesara, einem Webtanz von Domenico da Piacenza (1420–1475), sind 4 Paare plus zwei zusätzliche Männer vorgesehen. Durch Bezugslinien, die sich zwischen den Tänzer*innen auf- und abbauen, sozusagen spannen und entspannen, entstehen symbolische Figuren. Die Tänze beginnen direkt mit einem freien Saltarello, ohne anfängliche Riverenza (Verneigung), und der italienische Duca (Herzog) einer Stadt ist in der Regel anwesend und tanzt mit. Später, im 16. Jahrhundert, werden alle Balletti mit einer Riverenza begonnen und beendet, und es entsteht eine Vielzahl von Paartänzen. Ganz klar: König, Kaiser, Papst regieren in den verschiedenen Regionen Italiens und prägen die Tanzstile massgeblich!

TC: Die klassischen Ballettchoreografien kennen seit einigen Jahrzehnten eine Tanznotation – hat man im Spätmittelalter und in der Renaissance bereits ähnliche Niederschriften von Tanzschritten gekannt oder haben sich diese nur mündlich überliefert?

VD: Die ersten Tanzquellen, die uns bekannt sind, sind diejenigen von Domenico da Piacenza (vor 1455) und Guglielmo Ebreo da Pesaro (1463). Es waren keine Bühnentänze, sie wurden vornehmlich in aristokratischen Schichten getanzt, bei festlichen Anlässen, aber auch in den Palästen in intimeren Kreisen. Die Choreografien sind in Texten überliefert und es gibt bei den Balli oft eine spezifische Melodie dazu. Guglielmo stellte diese Melodien am Ende seines Traktates zusammen, Domenico hingegen fügte sie direkt vor jeder Tanzbeschreibung ein, und so wurde es auch im 16. Jahrhundert bei den Tanztraktaten von Fabritio Caroso und Cesare Negri gemacht. Der Erste, der eine Art Tanznotation benutzte, war Thoinot Arbeau (1520–1595). Er liess die Melodie eines Tanzes vertikal drucken und schrieb die Schritte horizontal dazu. So kann man sehen, bei welcher Note der Melodie, welcher Schritt zu machen ist. Solche einfachen Angaben sind von der barocken Tanznotation eines Raoul-Auger Feuillet (1653–1710) aber noch weit entfernt und kaum damit vergleichbar. Dennoch zeigen Arbeaus Aufzeichnungen in der Renaissance erstmals eine direkte, klar notierte Beziehung zwischen Bewegung und Musik. Sie erlauben noch keine langen Textangaben; bei Arbeau finden wir keine grossen Choreographien, keine beschriebenen Figuren, keine detaillierten Variationen. Im Gegensatz zu seinen italienischen Kollegen bleibt er bei der Beschreibung von Grundformen, von Ketten- oder Kreistänzen, die keine detaillierten Raumbewegungen aufzeigen. Der zu lesende Abstand zwischen den Noten und den choreographischen Angaben wäre zu gross und eine notierte Melodie würde sich so über viele Seiten erstrecken.
Was die mündliche Überlieferung betrifft, ist uns leider wenig bekannt. Wir wissen durch Schriftstücke und Berichtausschnitte, dass die im 15. Jahrhundert am meisten getanzte Gattung bei den Italienern der Saltarello war und dass die Quaternaria von den Deutschen getanzt wurde. Handelte es sich um improvisierte Tänze? Gab es eine bestimmte Grundform, die als Basis galt? War das regional bestimmt? Wir wissen es nicht.
Ab dem späten 15. Jahrhundert öffneten in Italien die ersten Tanzschulen. Tanzmeister, wie Guglielmo unterrichten dort und verfassten erste Anweisungen. Die Tanztraktate, die uns heute bekannt sind, stellen so einen Versuch dar, Bewegung auf Papier niederzuschreiben und festzuhalten. Sie bringen den Tanz auf die gleiche Ebene wie die Musik und dokumentieren, wie in wohlhabenden Familien, z. B. bei Festen, getanzt wurde.

TC: Jede*r professionelle Instrumentalmusiker*in sollte auch zumindest laienhafte Gesangskenntnisse haben, ist er idealerweise auch ein guter Laientänzer?

VD: Das wäre sehr schön! In meinem Renaissancetanzunterricht an der Schola geht es genau darum, dass alle Studierenden, die ein Bachelor-Studium machen, mindestens 1 Semester Erfahrung mit diesen Tänzen und deren Musik sammeln. Das Gleiche gilt auch für den Barocktanz meiner Kollegin Barbara Leitherer. Die Studierenden sammeln Erfahrungen in den verschiedenen Bewegungsstilen, sie begleiten einander, führen und unterstützen die Tänzer*innen mit der Musik, während sie gleichzeitig von den Tanzenden geführt werden. So wird klar, dass Musik und Tanz untrennbar sind. Bei Aufführungen arbeite ich mit Musikern, die ich beim Tanzen begleitet und trainiert habe.
Ähnlich geht es den Tänzer*innen. Sie können die Tänze kaum lernen ohne ein Minimum an musikalischen Kenntnissen. So haben meine Mittänzer Martin Meier als Spieler der Renaissance-Traverso und Chrisitan Tanner als Lautenist Erfahrungen mit der Frühen Musik und ihren entsprechenden Notationen. Beide trainieren bei mir seit vielen Jahren Renaissance-Tänze. So sind sie gewohnt, auf meine zahlreichen Interpretationsfragen, Änderungsvorschläge, aber auch wissenschaftlichen Zweifel zu reagieren und sich mit kenntnisreicher Flexibilität anzupassen.

TC: Zur Notationskunde – der Musikdruck der Neuzeit kennt klare Takt-, Metrum- und Rhythmus-Angaben, diese scheinen mir in den alten, originalen Notationen weitgehend zu fehlen. Doch gerade die Zählkunst, die Rhythmusschläge waren im Kanon der Frühen Musik von grosser Bedeutung. Können sie uns kurz erklären, an welchen Grundregeln des Zählens, Schreitens oder der Tempi man sich orientiert hat?

VD: Parallel zum Tanz pflege ich meine Liebe zur Notation der Musik. Generell geht es in der Entwicklung der Notation um Rhythmus und um rhythmische Organisation. Bei den Tänzen weiss man, ob eine Tanzgattung schneller oder langsamer ist als eine andere und ob ein Stück in einem Zweier- oder einem Dreierrhythmus geschrieben ist.
Wir haben in der Renaissance typischerweise keine genauen Informationen zu den Tempi. Arbeau versucht die Geschwindigkeit eines Tanzes durch Ausdrücke wiederzugeben. Die schnelleren Tänze bezeichnet er als légères, die langsameren als médiocre und die langsamsten als graves, freilich gibt es auch Zwischenstufen wie légèrement médiocre, médiocrement léger oder médiocrement grave etc. In Domenicos Traktat finden wir eine in sechs Abschnitte geteilte Tempo-Skala, die die vier verschiedenen Tanzgattungen jeweils in Sechsteln miteinander verbindet. Das kann im Einzelfall zu durchaus anspruchsvollen rhythmischen Interpretationen führen. Beschrieben wird auch, ob die Musik bei einem Tanz, wie z. B. der Bassadanza, mit oder ohne Auftakt anfangen sollte. Viel mehr wird oft nicht verraten. Um die Tanzmusik entziffern zu können, braucht es Erfahrung sowohl mit der Notation als auch mit dem Tanz. Es ist um die Mitte des 15.Jahrhunderts durchaus üblich, keine oder nur wenige Mensurzeichen zu verwenden. Die Mensur (d. h. die Taktart) wird durch den Kontext erkannt und die Tanzbeschreibung verrät meistens die Tanzgattung. Innerhalb eines Ballo wechselt der Tanz zwischen den vier verschiedenen Tanztypen, was bei der Musik zu verschiedenen Mensurwechseln führt. Manche Aspekte der Notation folgen dabei vielleicht nicht genau dem generellen Noten-Kanon der Zeit – dennoch finden wir in der Notation der Tanzmusik Elemente, die sehr typisch sind im Kontext ihrer Zeit (z.B. Minima-Äquivalenz, d. h. ein auch über Mensurwechsel hinweg unveränderlicher, kleinster Notenwert, und Alteration, das Prinzip, bestimmte Passagen in halben Notenwerten zu notieren).

TC: Sie haben das Privileg, nun schon einige Jahrzehnte in der Forschung der Alten Musik und der alten Aufführungspraxis tätig zu sein. Hat sich am Interesse für den Tanz und insbesondere dessen Gleichstellung mit den anderen Sparten des musikalischen Ausdruckes etwas verändert? Seit einigen Jahren kennen wir in Basel ja bereits den Renaissanceball! Oder fördert die Entdeckung des Renaissance Tanzes gar die Verbreitung der weltlichen Renaissancemusik?

VD: Es gibt heute immer mehr Leute, die Erfahrung mit den historischen Tänzen haben und sich spezialisieren, auch auf professioneller Ebene. (Heute würde ich nicht mehr so lange suchen müssen, um diese Tänze erlernen zu können, ich würde sogar auswählen können, bei wem ich anfangen möchte!) Die Tatsache, dass wir heute diese Tänze wieder pflegen, hat einen Einfluss auf die musikalische Interpretation der Tanzmusik, das ist ganz klar. Wir sammeln alle Erfahrungen, lesen die Quellen weiter und suchen das, was vielleicht hinter den Texten stecken könnte. Wir lernen in jeder Epoche den Ausdruck einer anderen Körpersprache. Die Schritte, also gewissermaßen die Buchstaben unserer «Tanzsprache», verbinden sich zu Wörtern und Phrasen, wir tanzen zu zweit, zu dritt und auch zu mehreren, bilden  gemeinsam geometrische Figuren, fügen Ornamente hinzu und sind fähig, wenn sich die Gelegenheit ergibt, zu improvisieren. Sich informieren, interpretieren, verzieren, variieren und improvisieren sind Begriffe, die zu unserem Alltag gehören, sowohl in der Frühen Musik, als auch im frühen Tanz. Das Studium des Tanzes hilft uns, die Sprache und den sozialen Kontext einer Kulturgemeinschaft – und schliesslich einer Gesellschaft – besser zu verstehen.
Es stimmt, dass ich zusammen mit der Musikschule der Schola eine Art neue Renaissanceball-Tradition ins Leben gerufen habe. Es werden während ca. drei Stunden Tänze, wie sie von Thoinot Arbeau beschrieben werden, aufgeführt. Es geht meistens um Paartänze sowie um Ketten- und Reihentänze, die früher bei bürgerlichen Festen und Banketten praktiziert worden sind. Die Musik dazu findet sich oft in den frühen instrumentalen Drucken, sodass interessierte Musiker Zugang haben und die Melodien spielen können. Das Repertoire der Branles und der Pavanes eignet sich besonders gut für solche Tanzevents – am 29. Januar 2022 wird es wieder soweit sein.
In der italienischen Renaissance hat hingegen beinahe jeder Tanz eine eigene Choreographie, die sich wegen der reichhaltig beschriebenen Figuren und wegen den möglichen Variationen hier nicht so einfach erklären lassen. Zu jedem Tanz existiert eine eigene Musik, die uns aus dem 15. Jahrhundert entweder als Melodie überliefert ist oder als Lautentabulatur gedruckt wurde oder eben überhaupt nicht in Form von Noten vorliegt. Die Musiker*innen müssen dann den jeweiligen musikalischen Stil erkennen und eine Tanzmelodie komponieren, arrangieren oder improvisieren – unser Trio mit Marc, Silke und Félix meistern diese Herausforderung dank ihrer langjährigen Erfahrung.
Bei unserem «getanzten Konzert» in Basel am 30. Mai 2021 werden wir Tänze von Guglielmo Ebreo da Pesaro präsentieren, wie sie vielleicht in den Sälen des Palazzo Ducale in Urbino oder in Milano aufgeführt worden sind.

weiterlesen

Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Misura, Memoria …», Mai 2021

Auf nach Paris und in die Bibliothèque nationale de France! Hier kann man im Lesesaal der Handschriftenabteilung drei wunderbare Manuskripte betrachten, die dem höfischen Tanz im Italien des 15. Jahrhunderts gewidmet sind. Zusammengenommen ergeben sie nahezu das vollständige Bild. Alle drei enthalten Musik für die beschriebenen Tänze: einstimmige Melodien, die mensural notiert erscheinen, aber Fragen aufwerfen; und man muss nur noch die Handschrift von Antonio Cornazano aus der Vatikanbibliothek hinzuziehen, um das gesamte musikalische Repertoire beisammen zu haben.

Eine der Pariser Handschriften gibt das Werk des Domenico da Piacenza wieder – der Überlieferung zufolge der eigentliche Begründer dieser Gattung; die anderen beiden enthalten die Werke des Guglielmo Ebreo da Pesaro und des Giovanni Ambrosio da Pesaro. Es dauerte einige Zeit bis man herausfand, dass es sich bei den beiden letzteren um die gleiche Person handelte, die mit dem Übertritt zum Christentum auch den Namen wechselte. Die kommende Veranstaltung ist dem 600. Jubiläum seines wahrscheinlichen Geburtsjahrs 1420 gewidmet. (Das Konzert war ursprünglich für den Mai 2020 angesetzt, musste aber aus offensichtlichen Gründen auf dieses Jahr verschoben werden.)
Alle drei Manuskripte sind wunderschön geschrieben – die anmutigste und vollständigste der Ballo-Handschriften aber ist die in Siena, die makellos auf Pergament notiert wurde (alle anderen stehen auf Papier). Wie zuvor schon angedeutet, ist es aber keineswegs eindeutig, was die Musiknotation uns verraten will, weil sämtliche Quellen von Leuten geschrieben worden zu sein scheinen, die mehr von Tanz und herrlicher Kalligrafie verstanden als von Musik. Auf jeden Fall entsprechen sie nicht den Notationsprinzipien, die in hunderten von Musikhandschriften des 15. Jahrhunderts aus ganz Europa zu finden sind. Über die Jahre hinweg gab es einige verschiedene Deutungen und soweit ich weiss, ist das letzte Wort in der Angelegenheit noch nicht gesprochen (ich bin nicht einmal sicher, ob das vorletzte schon gesprochen wurde). Immerhin sind die Informationen zu den Tanzchoreografien eindeutiger; und es ist die Aufgabe heutiger Musiker, einen angemessenen Rahmen für diese Tanzschritte zu schaffen.

​(Übersetzung: Marc Lewon)

weiterlesen

Programm

Programmbooklet Mai 2021

MISURA

I. Domenico, der Meister

Belriguardo / Belreguardo novo – Domenico da Piacenza (c1400–c1476)
Paris, Bibliothèque Nationale, f. ital. 972 («Pd», Tanztraktat des Domenico da Piacenza, c1440), fol. 7v–8v (Choreographie & Musik), Arr.: Uri Smilansky

La Ingrata – Domenico da Piacenza
Pd, fol. 10r–11r (Choreographie & Musik)

Presoniera – Domenico da Piacenza
Pd, fol. 14v–15r (Choreographie & Musik), Arr.: Uri Smilansky

Mignotta vechia / Mignotta nova – Domenico da Piacenza
Pd, fol. 26v–27v (Choreographie & Musik), Komposition: Elizabeth Rumsey


Portugaler – Guillaume Du Fay (1397–1474)
Strassburg, Bibliothèque Municipale, MS 222 C. 22 (Zofingen und Basel?, 1410–nach 1435; 1870 verbrannt), fol. 108r

Esperance me fait vivre en doulour – anonym
Oxford, Bodleian Library, MS Canon. misc. 213 («Oxford Codex», Venedig?, c1430), fol. 115v

Par droit je puis bien complaindre – Guillaume Du Fay
Oxford Codex, fol. 18v–19r


AIERE

II. Zwischen Italien und Burgund

Beaulte de Castille / Bialte di Castiglia – anonym
Brüssel, Bibliothèque Royale, Ms 9085 («Tanzbüchlein der Margarete von Österreich», Flandern um 1470), fol. 13r (Choreographie & Musik) / New York, Public Library, Dance Collection (*MGZMBZ-Res. 72-254) («NY»), fol. 28v–29r (ohne Musik)

Amoroso – anonymer Ballo francese
Choreographie: NY, fol. 29v; Musik: Paris, Bibliothèque Nationale, f. ital. 476
(«Pa», Tanztraktat des Giovanni Ambrosio, 1474/75), fol. 65v

Rostiboli gioioso – Domenico da Piacenza / Gioioso – Giovanni Ambrosio (= Guglielmo Ebreo, c1420–nach 1484)
Paris, Bibliothèque Nationale, f. ital. 973 («Pg», Tanztraktat des Guglielmo Ebreo da Pesaro, 1463), fol. 32r–32v, Musik: Pa, fol. 66r / NY, fol. 25v–26r (ohne Musik)


Ha que ville et abhominable – Antoine Busnoys (c1430–1492)
Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, MS Vanco Rari 229 («Florenz 229», c1492), fol. 213v–214r


MEMORIA

III. Guglielmo, der «Discipel»

Pellegrina – Guglielmo Ebreo (c1420–nach 1484)
Pg, fol. 26v–27r (ohne Musik), Komposition: Silke Gwendolyn Schulze

Spero – Guglielmo Ebreo oder Domenico da Piacenza
Pg, Tanz: fol. 42v–43v; Musik: fol. 50r, Arr.: Marc Lewon

Ginevra – Guglielmo Ebreo
NY, fol. 15r–15v (ohne Musik), Komposition: Marc Lewon

Duchesco – Guglielmo Ebreo
Pg, fol. 32v–33r (ohne Musik), Improvisation: Félix Verry

Principessa – Guglielmo Ebreo
NY, fol. 11v–12r (ohne Musik), Komposition: Marc Lewon, frei
adaptiert nach der Melodie der Bassedanse La portingaloise,
Tanzbüchlein der Margarete von Österreich, fol. 12v


Une mousse de Bisquaye – anonyme Monodie
Paris, Bibliothèque Nationale, f. fr. 12744 (einstimmiges Chansonnier, c1500), fol. 5v–6r, Arr.: Marc Lewon

Une musque de Biscaye – Josquin des Prez (c1450/55–1521)
Florenz 229, fol. 149v–150r


MAYNIERA

IV. Die Folgen

Guglielma Barbara – Véronique Daniels (1992)
Arr.: Marc Lewon, aus Falla con misuras (M. Gulielmus): Perugia, Biblioteca Comunale Augusta, MS 431 (G 20), fol. 95v–96r

Voltati in ça Rosina / Rossina – anonym
Pa, Choreographie: fol. 50r–51r; Musik: fol. 64v / NY, fol. 26v (ohne Musik)

El gioioso fiorito – anonym, Rekonstruktion Véronique Daniels & Carles Mas
Viterbo, Archivio di Stato, Notarile di Montefiascone, Protocollo 11, fol. 15r und fol. 58r (ohne Musik)


Kursiv = Instrumentalstücke ohne Tanz

Galerie

2024

Oktober

Magnum opus musicum 1604

Nachruf auf Orlando di Lasso
So 27.10.24 18:15 Konzert

Martinskirche
Basel

November

Du Fay 550

Musik fürs ganze Leben
So 24.11.24 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

Dezember

Nun singet

... und seid froh!
So 29.12.24 17:45 Mitsing-Workshop 18:15 Konzert

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

2025

September

Festival 2025 «ARCADIA»

Fr 26.09.25 bis 28.09.2025

Basel, Martinskirche