Holly Scarborough, Basel 2023 @ Amanda Joy

Interview mit Holly Scarborough

Interview mit Holly Scarborough, Mittelalter- und Renaissanceflötistin und neue Geschäftsführerin des Vereins ReRenaissance, Dezember 2023

 

Thomas Christ: Liebe Holly, ich freue mich, mit Dir als profunder Kennerin der Frühen Musik unsere traditionelle Interviewreihe zum Jahreswechsel 2023/24 fortsetzen zu dürfen. Was waren deine ersten musikalischen Kontakte in den USA? Wurde in eurer Familie viel musiziert und wann hast du die Flöte für dich entdeckt?

Holly Scarborough: Mein Vater ist Profigolfer, meine Mutter hat englische Literatur studiert und ist Bibliothekarin; unsere Familienkultur war von diesen beiden Einflüssen geprägt. Fast jedes Wochenende hatten wir Tickets für irgendeine Live-Veranstaltung, sei es ein Baseball- oder Eishockeyspiel, eine lokale Aufführung eines Musicals von Rodgers und Hammerstein, ein Shakespeare-Stück oder einen Museumsbesuch. Viele Jahre lang hatten wir auch eine Jahreskarte für Disneyland. Ich bin mir sicher, dass ich mein musikalisches Erweckungserlebnis hatte, als ich als Dreijährige durch das Disney-Kunstwerk tapste: Tief in meiner Seele erlebte ich, wie sehr Musik die Phantasie beflügeln und welche Vielfalt an Gefühlen sie auslösen kann. In Disneyland hat jede Attraktion und jede Fahrt ihren eigenen Soundtrack – und ich lernte die Macht dieser Art von funktionaler Musik kennen und die kindliche Freude, die ein gut getimter und koordinierter musikalischer Moment auslösen kann.

In den öffentlichen Schulen wurde Instrumentalmusik unterrichtet, und als ich neun Jahre alt war, durfte ich mir ein Band- oder Orchesterinstrument aussuchen, das ich lernen wollte. Ich entschied mich für die Flöte, nachdem ich sie bei einer Schulversammlung live gehört hatte, weil ich ihren Klang mochte. Nachdem ich mich angemeldet und mein Instrument erhalten hatte, weiss ich noch, wie abgrundtief enttäuscht ich war, als ich es zum ersten Mal nach Hause mitnahm, die glänzenden Teile zusammensetzte und versuchte, hineinzublasen: Heraus kam – nichts! Ich liess mich aber nicht entmutigen und blieb dran, obwohl ich kein natürliches Talent hatte. Es machte Spass, denn meine Freunde waren auch dabei, jeder ein neues Instrument zu lernen. Beim Musizieren in verschiedenen Jugendorchestern, Eliteformationen und Sommercamps genoss ich vor allem auch das soziale Element. Ich begann, Unterricht zu erteilen und Projektideen zu entwickeln – und schliesslich leitete ich als Drum Major unsere 200-köpfige Highschool Marching Band, marschierte mit einem grossen Tambourmajor-Stab vorneweg und leitete auch die «Field Shows».

TC: Wie kommt man von Orange County in Südkalifornien in die Welt des europäischen Mittelalters und an die Schola nach Basel?

HS: Mit 17 Jahren zog ich von zu Hause aus, um an einem Liberal Arts College in der Nähe von Chicago Musik und Philosophie zu studieren. Schönheit, Ethik, Kunstphilosophie und die Rolle der Musik in der Kultur schienen mir wichtige Themen zu sein, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Zu meinen Forschungsprojekten gehörten die Stoiker und die Rolle der Sprache, die Musik der Shaker im 18. Jahrhundert und politische Lieder im amerikanischen Bürgerkrieg. Nach dem College gab ich Privatunterricht, war musikalische Leiterin in einem Jugendprogramm für kreative Künste, unterrichtete Bands an öffentlichen Schulen in Madison, Wisconsin, und war Mitbegründerin eines Gemeinschaftschors in Atlanta, Georgia. –  alles grossartige Möglichkeiten, all das, was ich über den Wert der Musik in der Gesellschaft gelernt hatte, anzuwenden und zu sehen, wie es in der Praxis funktioniert.

Als ich nach Europa zog, durchlief ich eine andere Art von Ausbildung: Ich nahm eine Auszeit von der Musik und konzentrierte mich zwei Jahre lang ausschliesslich aufs Reisen. Ich besuchte alle Städte, Schlösser, Kirchen und Kunstwerke, die ich irgendwie aus meinem Budget herausquetschen konnte. Nach diesem engen Kontakt mit der Geschichte und mit einer Vorstellungskraft, wie ich sie wahrscheinlich seit meiner Kindheit in Disneyland nicht mehr erlebt hatte, nahm ich Kontakt zu Liane Ehlich auf, um die Renaissanceflöte zu studieren. Das warme Timbre und die visuelle Einfachheit des Instruments – ein einziges Stück Holz mit sieben Löchern in der Decke – zogen mich an, und das Erlernen des Repertoires aus dem 16. Jahrhundert wurde für mich zu einer Möglichkeit, mich mit der Geschichte auf eine Art und Weise zu verbinden, wie ich es zuvor nie getan hatte. Ich studierte Renaissancetanz und das Solmisationssystem und nahm Unterricht in mittelalterlicher Flöte bei Mara Winter, bevor ich mein Masterstudium an der Schola Cantorum Basiliensis begann. Dort hatte ich Unterricht bei Johanna Bartz und Marc Lewon und habe 2022 meinen Abschluss in Mittelalter- und Renaissancemusik gemacht. Barockflöte spiele ich nicht, das wäre wieder ein anderes Fach.

TC: Im Gegensatz zur klassischen und barocken Musik sind die musikalischen Quellen aus der Renaissance und noch mehr aus dem Mittelalter eher spärlich. Welches sind die wichtigsten Zeugnisse und Manuskripte für eure Forschungen, welche Rolle spielen die Gemälde der Bildenden Kunst?

HS: Ja, und wenn man dann noch feiner differenziert und eher zu weltlicher als geistlicher und eher zu instrumentaler als vokaler Musik forscht, dann gibt es sogar noch weniger Quellen. Aus Gerichtsakten, theoretischen Abhandlungen, Literatur und Ikonographie wissen wir, dass Musik in einer Vielzahl von Situationen wie Prozessionen, Zeremonien, Mahlzeiten und Tänzen zum Einsatz kam, und dass Instrumentalmusik sowohl bei formellen höfischen Banketten als auch bei zwanglosen bäuerlichen Zusammenkünften für Unterhaltung sorgte. Für solche Anlässe Instrumentierung und Repertoire vorzuschlagen, erfordert von einem modernen Interpreten Kreativität. Um Anhaltspunkte für die Aufführung zu erhalten, muss man auch andere Quellen als die Musik heranziehen – die erste Erwähnung von Querflöten in der Instrumentation ist das Liederbuch von Arnt von Aich aus dem Jahr 1515. So habe ich zum Beispiel das Turnier- und Tanzmanuskript «Freydal» von Maximilian I. (1512/1518) als Ausgangspunkt genommen, um zu Flöte und Trommel zu recherchieren, einem Ensemblepaar, das ich in Zweigulden nachbilden konnte. Darüber hinaus werden in einem erzählenden Gedicht von Machaut, «La Prise d’Alexandrie», viele Instrumente genannt, darunter auch die Querflöte; wir wissen also, dass dieses Instrument 1369 in Frankreich bekannt war. Als wir das Machaut gewidmetes Programm für das Ensemble Parlamento zusammenstellten, konnte ich mir sicher sein, dass die Querflöte ihren Platz in diesem Repertoire haben würde.

TC: Anlässlich des ersten und überaus erfolgreichen Renaissancefestivals in Basel im September 2023 hat euer noch junges Ensemble «Parlamento» viele Besucherinnen und Besucher positiv überrascht. Erzähl uns doch kurz, wie es zu dieser Formation, zu diesem Namen und vor allem zu dieser Fokussierung auf die Kunst des Spätmittelalters gekommen ist.

HS: Danke, wir haben unseren Auftritt sehr genossen! Wir vier haben uns 2020 an der Schola kennengelernt und bei Machaut-Partys am Freitagabend zusammengefunden. Der Name unseres Ensembles hat eigentlich zwei Bedeutungen. Er ist der Titel eines textlosen Stücks, das wir bei unserem ersten Konzert gespielt haben und das aus einem mittelalterlichen toskanischen Manuskript stammt. «Parlamento» trägt aber auch den Gedanken des Dialogs und des Sprechens in sich, der in unserem erzählenden Nibelungenlied-Programm aber auch bereits in unserem ersten Konzertprogramm mit der Gegenüberstellung französischer und italienische Musik des 14. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Ich glaube, wir alle haben viel Freude an diesem spätmittelalterlichen Repertoire, weil es von einstimmiger Musik bis hin zu vierstimmiger Musik alles umfasst, und wir damit experimentieren können, die passende Besetzung für jedes Stück zu finden.

TC: Die musikalischen Schätze der Renaissance und des Mittelalters sind unermesslich, aber im Vergleich zu Musik nach 1600 noch weitgehend unbekannt. Sind der Vermittlung dieses Nischenangebots für ein interessiertes Publikum natürliche Grenzen gesetzt oder stehen wir erst am Anfang einer musikalischen Wiederentdeckung?

HS: Ich bin sicher, dass es keine Grenzen gibt und dass es noch viele Menschen gibt, die darauf warten, diese Schätze zu entdecken! Ich denke, die beste Analogie für das Musikhören ist die Welt des Essens und der Restaurantbesuche. Wir alle haben unsere Grundgerichte, zu denen wir uns ganz natürlich hingezogen fühlen, und ich denke, dass unser Musikgeschmack mit diesen Gewohnheiten und Vorlieben vergleichbar ist, die sich mit der Zeit entwickeln. Aber die meisten Menschen sind irgendwann bereit, etwas Neues auszuprobieren, und oft verlieben sie sich sogar in eine neue Geschmacksrichtung! Ich erinnere mich an die Geschichte meiner Grosseltern, als sie nach Kalifornien zogen und dort zum ersten Mal Tacos entdeckten – das veränderte ihr Leben, und sie begannen, alle möglichen scharfen Speisen zu essen und alles mit Jalapeños zu würzen.

Wie ein Restaurant, das eine treue Kundschaft bedient, die hochwertige Zutaten, raffinierte Zubereitungstechniken und einzigartige Aromen zu schätzen weiss, so wird ReRenaissance auch weiterhin einzigartige monatliche Konzerte für sein spezifisches Fanpublikum veranstalten – ich glaube aber, dass es viele Leute gibt, die noch nie bei uns zu Gast waren, aber sobald sie einmal «probiert» haben, sofort auf den Geschmack kommen.

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