riginal – bearbeitet, neu – alt, gespielt – gesungen? Die meist dreistimmigen «Carmina» des deutschsprachigen Raumes im 16. Jahrhundert waren schon damals facettenreich und können heute auf eine bewegende und bewegte Geschichte zurückblicken. Gar als verschollen galt eine Sammlung der Druckerei Egenolff, von der man bis vor wenigen Jahren lediglich ein Discantusstimmbuch in Paris und eine Abschrift des Bassus in Heilbronn kannte. Ohne den Tenor, dem Rückgrat jener Musik, blieb die Sammlung von 1535/6 in modernen Zeiten stumm. Nachdem das Tenor-Stimmbuch jüngst in der Schweizer Nationalbibliothek ausfindig gemacht werden konnte, erklingen in diesem Programm erstmals alle neun Unika – musikalische Kleinode, die nur in dieser Sammlung überliefert sind. Egenolff druckt eine bunte Mischung aus geistlicher Musik, Liebesliedern, tänzerischen Instrumentalstücken und schliesslich mit «Fit Aries Piscis» auch ein musikalisches Rätsel, bei dem aus drei Stimmen plötzlich vier werden.
Ursprünglich revolutionierte Petrucci den Musiknoten-Druck – und sein Erbe verbreitete sich rasch in ganz Europa: Einmal im Jahr steht ein besonderer Druck/eine Druckerei im Zentrum eines ReRenaissance-Programms. Diesmal wird mit Harfe, Streichinstrumenten, Blockflöte, Laute und Gesang der Fund der verloren geglaubten Musik aus Egenolffs Drucken zelebriert.
Doron Schleifer – Gesang
Elizabeth Rumsey – Grossgeige, Blockflöte
Claire Piganiol – Harfe, Blockflöte
Ryosuke Sakamoto – Laute, Grossgeige
Tabea Schwartz – Blockflöte, Grossgeige; Leitung
Eintritt frei; Kollekte
Die Multi-Instrumentalistin und Renaissance-Spezialistin Elizabeth Rumsey antwortet auf Fragen von Dr. iur. Thomas Christ.
TC: Liebe Liz, du bist in England geboren, hast aber deine ganze Schulzeit in Australien verbracht. Da liegt die Frage nahe, wie du den Weg zur Frühen Musik gefunden und wie du als Flötistin die Gamben Europas entdeckt hast.
ER: Das ist für Musikerinnen meiner Generation immer eine gute Frage. Die jüngeren Spieler und Sänger, vor allem hier in der Schweiz, beginnen manchmal direkt mit einem „Alte-Musik”-Instrument wie der Gambe, aber für mich war die Erkenntnis, dass frühere Musik für andere Instrumente geschrieben wurde, und die Entdeckung was für Instrumente das waren, ein langer Prozess. Ich habe es immer vorgezogen, etwas selbst zu spielen oder zu singen, anstatt es zu hören, und so ist es nur folgerichtig, dass ich versuchte, verschiedene Instrumente zu erlernen. Mein erstes Instrument war die Geige, und da meine Mutter Musiklehrerin war, lernte ich auch recht früh Blockflöte und Klavier. Während meiner Schulzeit habe ich noch einige andere Instrumente ausprobiert – Posaune, Kontrabass, Klarinette – aber hauptsächlich habe ich Oboe und Bratsche gespielt. Das bedeutete, dass ich Erfahrung in vielen verschiedenen Besetzungen sammeln konnte: im Jugendorchester, im Streichquartett der Schule, in einigen Bläserensembles sowie in diversen Chören. Als ich mein Bachelor-Studium mit Blockflöte und Oboe begann, kannte ich also schon eine Menge Musik aus unterschiedlichen Perspektiven. Im ersten Jahr am Konservatorium entdeckte ich dann die Gambe und begann, diese mehr zu spielen als die Blockflöte.
Ich mochte schon immer Barock- und Renaissancemusik, und als ich anfing, sowohl Gambe als auch Blockflöte zu spielen, lag es nahe, mich auf das frühe Repertoire zu konzentrieren. Manchmal vermisse ich es, spätere Musik wie Schubert oder Dvorak zu spielen, aber man kann nicht alles machen!
TC: Vielleicht kannst du uns in wenigen Worten etwas über die Grösse und die Bedeutung des Sidney Konservatoriums erzählen. Gibt es da eine Alte Musik-Abteilung?
ER: Ich bin mir nicht sicher, ob es dort heute eine Abteilung für Alte Musik gibt. Aber als ich dort studierte, war es ein normales, klassisches Konservatorium – das zumindest in Australien angesehen war – mit einem sehr kleinen Randbereich, in dem Cembalo, Travers- und Blockflöte unterrichtet wurden. Es gab dort bereits einige Lehrer, die das Konzept der historischen Aufführungspraxis ernst nahmen und es in ihren Gesamtlehrplan aufnahmen. Das ist etwas, was ich mir für das Konservatorium in Sydney und überhaupt für jede Musikhochschule wünschen würde: dass sich eine separate Abteilung für Alte Musik erübrigt, weil jedes Instrument und jede Art von Musik nach diesen Prinzipien unterrichtet wird.
TC: Du bist dann an der Schola eine Expertin der Musik des Mittelalters geworden. Die Fidel – oder Vielle – gehörte ja unbestritten zu den beliebtesten Instrumenten des Mittelalters, und zwar sowohl für religiöse Feiern als auch für weltliche Feste, wo sie zur Begleitung von Tanz und Gesang nicht fehlen durfte. Kannst du uns etwas zur Entstehung oder zu den Vorläufern der Fidel erzählen?
ER: Ich weiss nicht viel über die Ursprünge der mittelalterlichen Fidel, aber das Mittelalter umfasst mehrere hundert Jahre Musikentwicklung und viele verschiedene Instrumentenformen, Stimmungen und Spielweisen. Es gibt noch viel zu erforschen, und vieles wird man ohne eine Zeitmaschine nie erfahren. Eine gewisse Verwandtschaft mit europäischen und arabischen Volksinstrumenten ist offensichtlich, aber die Zusammenhänge sind nicht immer eindeutig. Anhand von mittelalterlichen Musiktraktaten und Abbildungen können wir jedoch bestimmte Fideltypen mit bestimmten Musikstilen und Spielweisen in Verbindung bringen. Der Übergang von den Instrumenten des Mittelalters zu denen der Renaissance ist dabei leichter nachzuvollziehen; wir können die Viola da Gamba auf die Vihuela und die Violine auf das Rebec zurückführen. Eines der Dinge, die das Repertoire des 16. Jahrhunderts so faszinierend machen, ist die enorme Vielfalt an Instrumenten – die meisten davon haben sich im darauffolgenden Jahrhundert in einer Art Standardform und ‑stimmung eingependelt – und die Musik enthält viel häufiger Hinweise darauf, welche Instrumente genau verwendet werden sollten. Unser ReRenaissance-Programm mit Musik aus dem Weihnachtsspiel von Rouen aus dem späten 15. Jahrhundert ist beispielsweise gerade deshalb bemerkenswert, weil es für einige der Lieder explizite Anweisungen für die Besetzung vorschreibt. Diese Zeit der Überschneidungen zwischen Fideln, Violinen und Gamben ist also aus vielen Gründen faszinierend.
TC: Wir hören dich regelmässig in den Formationen erlesener Renaissancewerke für Gambenconsort und wir erinnern uns noch lebhaft an die Wiedergeburt der Grünewald-Grossgeige aus dem Isenheimer Altargemälde. In der europäischen Musikwelt hat die Gambe vom 15. bis ins 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt, warum wurde sie danach vom viersaitige Cello verdrängt oder ist das Cello eine Weiterentwicklung der sechssaitigen Gambe?
ER: Für mich ist es immer hilfreich, die Instrumente in Familien aufzuteilen. Geigen, Bratschen und Celli sind eigentlich eine ganz andere Familie als Gamben. Wie wir letzten Monat gesehen haben, kann die Violinfamilie des 16. und 17. Jahrhunderts viele verschiedene Instrumentengrössen umfassen, und ich denke, wenn man den Klang der «Violin-Band» mit dem eines Gambenconsorts vergleicht, ist es leicht zu verstehen, warum die Violinen die Gamben zu ersetzen begannen: Sie haben einen stärkeren und brillanteren Klang und sind für grössere Aufführungsräume viel besser geeignet. Wir denken manchmal, dass die Gambe zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Wiederbelebung der Alten Musik im 20. Jahrhundert verschwunden war, aber offenbar gab es immer Leute, die sie weiterhin spielten, nur meist zu Hause zu ihrem privaten Vergnügen.
TC: Du bist nun mit deinen Instrumenten der Renaissance schon einige Jahrzehnte unterwegs – stellst du auch fest, dass sich das Interesse für die Musik vor 1600 vermehrt einer grösseren Beliebtheit erfreut oder fristet das reiche Repertoire dieser Zeit immer noch ein Nischendasein?
ER: Beides! Renaissancemusik im Allgemeinen ist definitiv stärker zu einem Teil des klassischen Kanons geworden als zu der Zeit, als ich anfing zu spielen, aber es gibt immer noch eine riesige Menge an Musik, die vielen Konzertbesuchern fremd erscheinen mag. Um ehrlich zu sein: vieles davon ist auch für die Musiker fremd – wir arbeiten ständig an bisher unbekannten Kompositionen oder finden neue Wege, sie aufzuführen. Es ist ein sehr flexibles Repertoire, offen für verschiedene Interpretationen, was Besetzungen und Arrangements betrifft. Und das ist ein Teil dessen, was uns an der ReRenaissance-Reihe selbst so gefällt: die Abwechslung zwischen Programmen mit bereits bekannten Musikstücken, wie dem Palestrina-Jubiläumskonzert im kommenden Monat, und Programmen mit neu entdeckten oder neu rekonstruierten Werken, wie in diesem Monat. Und wenn sich die Musikausbildung im Allgemeinen weiter in Richtung einer auf alle Epochen angewandten historischen Aufführungspraxis bewegt, dann wird das Interesse an der Musik der Renaissance hoffentlich weiterwachsen.
Übersetzung: Marc Lewon
Neuentdeckungen von Quellen mit früher Musik tauchen häufiger auf, als allgemein angenommen wird, und zwar auf den seltsamsten Wegen. Überraschend oft befinden sie sich bereits sicher verwahrt in den grossen staatlichen Sammlungen. Ein klassisches Beispiel für einen solchen Fall ist das Uppsala Chansonnier (Signatur: 76a): Als Howard Mayer Brown einst Mikrofilme der bekannten Manuskripte 76b, 76d und 76e der Bibliothek bestellte, dachte er sich, er könnte bei dieser Gelegenheit auch gleich 76a mitbestellen – und, voilà, eine «neue» Quelle ward entdeckt. Die kostbare Tastentabulatur des Gonzalo de Baena (Lissabon, 1540) wiederum ging in der Königlichen Bibliothek Madrid verloren, weil sie als Buch über Arithmetik katalogisiert war. Am überraschendsten ist aber …
… wohl der Fall der Tenor-Stimmbücher zweier Sammlungen, die Christian Egenolff 1535–1536 in Frankfurt gedruckt hatte. Die in Paris liegenden Discantus-Stimmbücher waren bereits bekannt, aber sie standen dort ohne die Titel. Der Schweizer Gelehrte Martin Staehelin fand heraus, dass eine grosse Anzahl der Bassus-Stimmen in ein Manuskript übertragen worden war, das sich heute in Heilbronn befindet. Schliesslich aber identifizierte der australische Musikforscher Royston Gustavson die Titel anhand eines Katalogs aus dem 17. Jahrhundert und gab sie in eine Suchmaschine ein, nur um herauszufinden, dass sich die Bände seit dem späten 19. Jahrhundert in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern befanden. Wer sich mit Musikbibliografie auskennt, fragt sich vielleicht, wie es sein kann, dass sie nicht im berühmten RISM (Répertoire International des Sources Musicales) aufgeführt sind, dem beeindruckenden Katalogisierungsprojekt, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Nachfolger von Eitners früherem Quellen-Lexikon (1900) ins Leben gerufen worden war und mit den beeindruckenden Recueils imprimés von François Lesure (1960) begonnen hatte. Des Rätsels Lösung liegt wohl darin, dass die Nationalbibliothek hauptsächlich aus einer Sammlung neueren Materials besteht und anscheinend niemand daran gedacht hatte, mal nachzuschauen, ob sie auch frühe Drucke enthält. Wie dem auch sei, jetzt haben wir sie wieder, und gleich dem verlorenen Sohn werden sie bei ihrer Rückkehr – nach fast fünfhundert Jahren des Schweigens – mit doppelter Freude willkommen geheissen werden.
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel
Goldbedrucktes Papier