Nowell, nowell

Adventliche Carols des 15. und 16. Jahrhunderts
So 29.11.20

Barfüsserkirche
Historisches Museum Basel

«C

hristmas Caroling» ist auch heute die englische Bezeichnung für das Singen in der Weihnachtszeit. Das war in der frühen Neuzeit nicht anders. Doch während man heute unter «Caroling» jenes feierliche Singen vornehmlich als eine weihnächtliche Begleitung versteht, wurden diese Liedblüten im England des 15. und 16. Jahrhunderts das ganze Jahr hindurch zu allen möglichen festlichen Anlässen aufgeführt: an religiösen Festtagen, politischen Events, kirchlichen Prozessionen und zu anderen Feierlichkeiten. Die englischen «Carols» waren nicht nur den ausgebildeten Musikern vorbehalten. So laden wir das Publikum ein, eine Aufführungspraxis mitzufeiern, die die Menschen bereits vor 600 Jahren zusammengeführt hat.

Grace Newcombe – Stimme, Clavisimbalum; Leitung | Amy Farnell – Stimme, Glocken | Marc Lewon – Plektrumlaute, Cetra, Viola d’arco, Stimme | Rui Stähelin – Plektrumlaute, Stimme

Renaissancegloscken der Schola Cantorum Basiliensis

Video

Out of your slepe

Konzertclip aus dem Konzert «Nowell, nowell» – Adventliche Carols des
15. Jahrhunderts, November 2020

 

I am a joly foster

I am a joly foster  aus «Nowell, nowell»  – Barfüsseerkriche Basel 29.11.2020

The borys hede

Konzertclip November 2020 aus «Nowell, nowell»  – Adventliche Carols des 15. Jahrhunderts

Interview

Grace Newcombe – Sängerin und Organistin

Thomas Christ (TC): Wie wird eine junge Frau Chorleiterin im traditionellen Hertford College und wie entsteht und wächst ihr Interesse für die Musik des Mittelalters, einem Bereich, der über Jahrhunderte von Männern dominiert wurde?

Grace Newcombe (GN): Tatsächlich ist meine erste Musikausbildung als Kind und Jugendliche fast ausschließlich von Männern bestimmt worden: Meine musikalische Schulung begann als Kirchenchorsängerin, was in England bis heute zu Kontroversen führt.

Viele Leute sind der Ansicht, dass ein Kirchenchor nur für Knaben gedacht ist. So ist auch meine spätere Ausbildung als Organistin und Kirchenchorleiterin vielerorts auf Überraschung gestossen. In den Orgel- und Chorleiterkursen war ich dann immer die einzige Frau. Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich an der Oxford University als Organistin arbeite, sind sie in der Regel sichtlich irritiert. Das ist ein wenig frustrierend. Aber beide Institute, an welchen ich meine Ausbildung genoss, also die Salisbury Cathedral wie auch das Hertford College in Oxford, setzten sich auf fantastische Art für die geschlechtliche Gleichstellung ein. Salisbury war eine der ersten kirchlichen Schulen in England, welche auch Mädchen aufnahmen. Und in Hertford betreute mich eine wunderbare Kaplanin, die mich in meiner Arbeit in der Kirche sehr unterstützte.
Meine Liebe zur Frühen Musik verdanke ich zum großen Teil dem Salisbury Cathedral Choir. Seit ich acht Jahre alt bin, singe ich Renaissancemusik, und diese Vorliebe hat sich gehalten, bis ich in meinen frühen 20er Jahren nach Basel zog. Hier entdeckte ich dann die Musik des Mittelalters und man könnte fast sagen, je mehr ich mich in Basel einlebte, desto tiefer rutschte ich in die Welt der Frühen Musik hinein. Und dennoch – hätte man mir in der Salisbury Cathedral das Mitsingen nicht erlaubt, weil ich ein Mädchen war, wer weiß, ob ich die Frühe Musik überhaupt entdeckt hätte.

TC: Deine musikalische Ausbildung beschränkte sich nicht auf den Gesang, sondern offenbar spielten Klavier, Orgel, die Klarinette und auch die kleine Harfe eine Rolle. Stand dabei das Studium der Stimme immer im Vordergrund?

GN: Das mag man nun kaum glauben, aber der eigentliche Entscheid, mich auf den Gesang zu fokussieren, entstand erst spät mit meinem Eintritt in die Schola Cantorum. Als Jugendliche gehörten die Orgel und die Klarinette zu meinen Hauptinstrumenten, natürlich konnte ich das Singen nicht lassen –dies lag mir immer sehr am Herzen. Aber ich hatte eine ungestillte Neugier, neue Instrumente zu erlernen. So widmete ich mich dem Schlagzeug, dem Saxophon, der Geige und der kleinen keltischen Harfe. An der Universität kamen dann die Renaissancelaute und die Viola da Gamba dazu. Heute bin ich glücklich, das Spielen vieler Instrumente erlernt zu haben, denn es erlaubt mir, neue «fremde» Instrumente aus der Welt des Mittelalters aufzugreifen und mich selbst beim Singen zu begleiten, was natürlich viel Freude bereitet. Überdies empfinde ich es als Vorteil, dass ich vor meinem Eintritt in die Schola Cantorum keine klassische Gesangsausbildung hatte, denn so wurde ich in meiner professionellen Stimmbildung direkt und spezifisch mit der Mittelalter- und Renaissancemusik konfrontiert.

TC: Zu deinen musikwissenschaftlichen Spezialgebieten gehört die Erforschung der Aufführungspraxis der Lieder und Liedtexte des 12. und 13. Jahrhunderts, also des englischen Hochmittelalters. Kannst du uns kurz etwas zu dieser musikalisch reichhaltigen Zeit erzählen?

GN: Die Geschichte des englischen Liedes im Mittelalter ist tatsächlich hochinteressant, denn sie beschreibt eine mehrsprachige Gesangskultur. Vereinfacht gesagt, sprachen und sangen die gebildeten Leute eine Art Altfranzösisch, während die Ungebildeten sich der englischen Sprache bedienten. So gab es neben der reichen Tradition lateinischer Textquellen auch einen enormen volkssprachlichen Fundus an Liedtexten, die sich in ihren Stilen stark unterschieden. Erstaunlich früh entstand bei diesen englischen Liedern das Interesse an der Mehrstimmigkeit und diese erfreute sich bereits im Mittelalter großer Beliebtheit. Das mehrstimmige Volkslied ist seit dem 12. Jahrhundert eine bekannte und beliebte Kunstform. Es handelte sich also eindeutig nicht um eine Erfindung der höfischen Kultur. So kam ich insbesondere in meiner Dissertation zu diesem Thema zur Erkenntnis, dass sich die Geschichte des Stils und der Spielweise mehr- und einstimmiger Lieder in England stark von jenen im französischen und lateinischen Kulturraum unterscheidet. Die Britischen Inseln erfreuten sich zu jener Zeit einer ausnehmend reichen und komplexen Gesangskultur, die in mindestens drei verschiedenen Sprachstilen erkennbar ist und manifest wurde.

TC: Dein beliebtestes Begleitinstrument ist nicht die Gitarre, nicht die Laute und nicht die Handorgel, sondern die kleine Harfe. Wie kam es zu dieser Wahl?

GN: Die Frage nach jener Harfe ist tatsächlich eine Geschichte von Freundlichkeiten anderer Leute. In jungen Jahren bekam ich eine keltische Harfe geschenkt, ein Instrument, das ich liebte und bewunderte. Als ich dann an der Schola Cantorum im Nebenfachstudium ein Instrument wählen sollte, erschien mir die Harfe als ideale Wahl. Überdies hatte ich das Glück, von der Leverhulme-Stiftung in England ein Stipendium zu erhalten. Der Stiftungsrat stellte jedoch fest, dass «lediglich eine keltische Harfe» nicht das ideale Instrument für ein Studium der Mittelaltermusik sein konnte. So wurde beschlossen, nicht nur eine, sondern gleich zwei Harfen zu finanzieren, nämlich eine für die Musik des Hochmittelalters, sowie eine gotische Harfe für das Spätmittelalter. Das war fantastisch, denn so konnte ich dank der Leverhulme-Stiftung mein Studium mit der Mittelalterharfe fortsetzen. Und so pflege ich meine drei Harfen bis zum heutigen Tag. Mein kleines Instrument ist übrigens mit Efeu und kleinen Vögeln farbig dekoriert, ganz in der Art der Buchmalereien mittelalterlicher Manuskripte.

TC: Beginnt in der Renaissance mit dem reichen Aufkommen neuer Musikinstrumente die Vorrangstellung der vokalen Musik der instrumentalen Aufführungspraxis zu weichen? Oder gilt das bloss für den Wandel der höfischen Musikkultur?

GN: Wir betrachten das 15. Jahrhundert als die Geburtsstunde der Instrumentalmusik, die sich während der Renaissance mehr und mehr ausbreitete. Ab dieser Zeit finden sich die ersten Musikhandschriften, die sich spezifischen Instrumentalensembles widmen. Aber, wie richtig bemerkt, betrifft diese Entwicklung vornehmlich die höfische Musikkultur. Übrigens liegt eine der Herausforderungen für das Verständnis und die Erforschung der Musik des Mittelalters und der Renaissance genau darin, dass wir meist nur die Perspektive der überlieferten Quellen kennen, also nur jene der gebildeten Oberschicht. Das ist ungefähr so, wie wenn in 500 Jahren zukünftige Musikologen nur auf Quellen bekannter Opern und Orchesterwerke stossen würden und zum Schluss kämen, dass diese und nur diese Literatur den Geschmack unserer Zeit wiedergäbe. Das ist nicht der Fall, und damals wie heute erfreuen sich die Menschen an einer großen Vielfalt von Musikstilen. Sowohl die instrumentale wie auch die vokale Musik kennt eine starke Tradition mündlicher Überlieferung. Die sogenannte «Geburt» der Instrumentalmusik der frühen Renaissance betrifft nur einen spezifischen höfischen Trend, der in schriftlicher Form überlebt hat. Das heisst aber keineswegs, dass die vokale Musik ihre Bedeutung ganz verloren hätte. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie sich andere, neue Musiktrends im Laufe der Jahrhunderte entwickeln und auch wieder verschwinden, ohne irgendwelche Spuren oder Quellen zu hinterlassen.

TC: Im Mittelalter war das schriftliche Festhalten von Noten noch weitgehend unbekannt. Auf Grund welcher Quellen werden heute mittelalterliche Lieder zum Leben erweckt?

GN: Die frühesten mittelalterlichen Notationen verstehen sich mehr als Hilfsangaben denn als klare Gesangsanleitung – sie verweisen auf die Grundstimme und setzen voraus, dass die eigentliche Melodie dem Sänger bekannt ist. In einigen Fällen taucht in späteren Liedquellen eine detaillierte Notation auf, die uns dann erlaubt, Lücken zu füllen. Bereits im Hochmittelalter kommt es zur Anwendung ausgefeilter Notensysteme, die sich dann im Spätmittelalter mitunter zu wunderbaren, mathematisch und logisch durchdachten Werken entwickeln. Am Ende des 14. Jahrhunderts notieren die Musiker*innen schon höchst komplexe Melodien, so insbesondere die rhythmischen Spielformen der Ars Subtilior (Stilepoche zwischen 1377 und 1420, Anm. TC). Diese Notationen entstehen mit professionellem Stolz und werden mit Rätseln und Bildern bereichert.
Dennoch bleiben trotz Quellen viele Fragen zur Aufführungspraxis unbeantwortet. So die Frage der Instrumentation, aber auch die Frage nach möglicher Begleitung einstimmiger Lieder. Hier können alte Bilder, Gemälde oder auch Beschreibungen helfen, bei denen meist aber wichtige Informationen fehlen. Gewisse gemalte Instrumente zeigen oft eigenartige oder sogar technisch unmögliche Details. Längst nicht alle Maler kannten die Einzelheiten der Instrumente, und ihre Werke vermitteln eher eine Grundidee als eine verlässliche Angabe zum Instrumentenbau. Als Forscher*- und Musiker*innen versuchen wir möglichst viele Quellen und Hinweise zu nutzen und zu einem Ganzen zusammenfügen.

TC: Welche Prognose stellst du für die Wiederbelebung der Musik des Mittelalters und der Renaissance? Wird sie einen ähnlichen Boom erleben, wie wir dies die letzten Jahrzehnte bei der Musik des Barock beobachten konnten?

GN: Das ist ein interessanter Punkt. Ich glaube, wir befinden uns in einem wachsenden boom of interest für die Musik des Mittelalters und der Renaissance, aber nicht in der Art des heutigen Marktes für Barockmusik. Anstelle eines gesteigerten Interesses an der klassisch historischen Aufführungspraxis von Mittelalter- oder Renaissance-Musik stelle ich fest, dass viele Leute in der Pop-Kultur und in Crossover-Experimenten die Faszination für jene frühe Musik ausleben. Social Media und YouTube-Kanäle offerieren in der Tat Mittelalter- und Renaissance-Hobbymusiker*innen neue Plattformen und neues Publikum. Ein Beispiel für Crossover, der auch mir durchaus Spass macht und sogar einem höheren Standard gerecht wird, ist die Gruppe Bardcore. Diese Mischung von Pop-Musik und alten Lied- und Textformen ist gerade dieses Jahr auch mit der Benutzung alter Instrumente recht populär geworden. Interessant ist in dieser Hinsicht der YouTube-Kanal Hildegard von Blingin` mit weit über 700’000 Abonnierenden – und die Musiker*innen sind durchaus talentiert! Das ist allerdings nicht mein Betätigungsfeld mittelalterlicher Aufführungspraxis, aber es ist gut gemacht. Und wer weiß – vielleicht inspiriert diesemittelalterliche Crossover-Szene einige Zuhörende, sich der klassischen Form zuzuwenden. Solche Crossover-Projekte könnten zum zündenden Funken für unsere Musik werden. Die Faszination ist da, der Boom muss nur noch in unserem Konzertsegment Wurzeln schlagen.

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Kolumne

«Ich bin dabei … » von David Fallows zu «Nowell, nowell», Nov 2020

Einer der Schlüsselmomente in meinem Leben war die Begegnung mit den englischen Carols des 15. Jahrhunderts in meinem ersten Studienjahr. Meine musikalischen Hauptinteressen waren zunächst ähnlich gelagert, wie die der meisten Musikstudenten der 1970er Jahre. Ich fing bei Beethoven und Brahms an, entdeckte dann Schönberg und Webern und schritt von dort aus unweigerlich zu Stockhausen und Boulez voran.

Offensichtlich hatte ich zu dieser Zeit bereits einige Einspielungen mittelalterlicher Musik gehört (nur wenige, denn es gab damals nicht sehr viele und einige davon waren wirklich ganz furchtbar), aber es war das Singen und Hören der Carols, was mein Leben für immer verändern sollte: Von diesem Augenblick an und bis auf den heutigen Tag wurde die Musik des 15. Jahrhunderts zu meiner Hauptbeschäftigung.
Es waren die frühesten Carols aus der Zeit von 1415–1430, die mich zuerst fesselten: hier spürte ich eine Frische der Farben und einen immer wieder das kulturelle Gemeinschaftsgefühl ansprechenden Widerhall. Insbesondere aber war da eine Schlichtheit und eine Unmittelbarkeit im Ausdruck, ohne Anzeichen irgendeiner Grossspurigkeit – was den Grossteil der Musik auf Anhieb ansprechend machte. Später lernte ich die wesentlich aufwändigeren und ambitionierteren Carols aus dem Ritson Manuscript kennen, die wahrscheinlich aus den 1430ern und frühen 1440ern datieren. Erst lange danach, bei der Veröffentlichung des Fayrfax Manuscripts 1976 (und der wundervollen LP, die in etwa zeitgleich vom Hilliard Consort mit Judith Nelson aufgenommen wurde), wurde mir klar, dass dieses Repertoire einige der strahlendsten Musikstücke enthält, die jemals in England komponiert wurden.

(Übersetzung: Marc Lewon)

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